Der Hamburger Bildungshistoriker Alexander-Martin Sardina zeichnet 30 Jahre nach der Wende ein differenziertes Bild von den Rahmenbedingungen und dem Fremdsprachenunterricht in der SBZ und DDR und hebt zugleich die spezielle Rolle Thüringens nach dem Zweiten Weltkrieg hervor.
Thüringen ist ein besonderes Land in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gewesen. Nicht nur wegen seiner landschaftlichen Schönheit oder seiner bodenständigen Küche, sondern weil sich die Thüringer als einzige in der SBZ fast ein Jahr lang gegen die Maßnahmen der sowjetischen Besatzer wehrten: In der Folge kam es zu Verhaftungen durch die Sowjetische Militäradministration (SMAD), zu Schauprozessen auch gegen Jugendliche sowie zu Deportationen nach Sibirien. Rudolf Paul (1893–1978), der damalige Ministerpräsident des Landes, floh in dem Kontext 1946 nach Frankfurt am Main.
Der Bildungshistoriker Alexander-Martin Sardina erläutert dazu: »Thüringen wollte nicht sowjetisiert werden; es war das Land, in dem es den meisten Widerstand in der SBZ gab. Darum wurde vonseiten der SMAD schließlich umso härter durchgegriffen. Es war das letzte Land in der SBZ, dass das ›Gesetz zur Demokratisierung der Schule‹ ratifizierte, nämlich am 12. Juni 1946. Der Demokratiebegriff der Sowjets ist dabei aber nicht mit ›Pluralismus‹ zu verwechseln. Das Datum wurde bewusst fortan zum ›Tag des Lehrers‹, um an den Triumph über den Widerstand zu erinnern. Zugleich wurde Thüringen in der Praxis benachteiligt: So gab es noch im Schuljahr 1948/1949 Kinder und Jugendliche, beispielsweise in Altenburg, die nicht beschult wurden. Einer der Gründe dafür war, dass sich die Eltern das Schulgeld nicht leisten konnten, das damals weiterhin erhoben wurde: Anspruch und Wirklichkeit klafften stets auseinander.«
Ab dem Schuljahr 1952/1953 nahm in Wickersdorf (Rudolstadt) eine der ersten fünf »Erweiterten Oberschulen« (EOS) mit »erweitertem Russischunterricht« ihren Betrieb auf. Thüringen wurde damit gezielt zu einem der Ausbildungszentren für die dringend benötigten Lehrer für das neue Fach gemacht.
Denkt man an die Zeit der sowjetischen Besatzung und die daraus hervorgegangene DDR, so assoziiert man im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht mit ihnen vermutlich zuerst einmal das Fach »Russisch«, das flächendeckend 1945 obligatorisch im System der Volksbildung eingeführt wurde. Doch die Realität war vielfältiger im Staatssozialismus: »Französisch« blieb zwar stets die »ewige Nummer 3«, doch auch diese Sprache gehörte zum Angebot an manchen POS und EOS, ebenso wie beispielsweise »Chinesisch«, »Polnisch«, »Sorbisch« oder »Spanisch« sowie »Latein« und »Griechisch« als altphilologische Fächer. Mit der Forderung nach der Einführung der Plansprache »Esperanto« an den Schulen sah sich das Ministerium für Volksbildung zudem etwa alle zehn Jahre in geballten Aktionen aus dem In- und Ausland konfrontiert.
Sardina hat von 2003 bis 2016 eine Vielzahl an Dokumenten und Schriftstücken in Archiven gesichtet und analysiert (»Fakten aus Akten«). Jetzt sind die Ergebnisse seiner Forschungen als umfangreiche Publikation unter dem Titel »Hello, girls and boys!« – Fremdsprachenunterricht in der SBZ und DDR im Wolff Verlag (Berlin/Breitungen) erschienen. Der Titel ist zugleich eine Hommage an die Sprachlehrreihe »English for You« im Bildungsfernsehen der DDR ab Mitte der 1960er-Jahre, denn jede Folge begann mit dieser Begrüßung: Die Beiträge zur Verbesserung des Englischunterrichts im Schulfernsehen der DDR werden ausführlich in einem Vertiefungskapitel dargestellt.
Zu den bemerkenswerten Resultaten zählen auch, dass in zwei weiteren Vertiefungskapiteln auf die einzige »Spezialschule für Fremdsprachen« (Berlin-Lichtenberg) und die mehrfachen Besuche von Schülern einer Highschool aus den USA an einer EOS unter dem Dach des Englischunterrichts, die bislang völlig unbekannt waren, eingegangen wird: Margot Honecker hatte diese einzigartigen Begegnungen persönlich genehmigt, gegen den Widerstand der eigenen Verwaltung und trotz der Bedenken des Ministeriums für Staatssicherheit.
Die Publikation kann ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht verbergen, wurde aber von vornherein unter aktiver Einbeziehung von (ehemaligen) Englischlehrern, damals in der Volksbildung tätigen Pädagogen und an der DDR-Vergangenheit interessierten Laien als Zielgruppen verfasst. Der bewusst günstige Verkaufspreis für ein Fachbuch ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen. Drei Interviews mit Zeitzeugen, die sich ungekürzt im Anhang befinden, sowie detaillierte Erläuterungen in fast 1000 Fußnoten und einigen Extrakapiteln gehen bewusst über das Kernthema hinaus und erleichtern dem Leser beispielsweise durch ein mitlaufendes Geschichtsbild, das sich an neuesten Archivfunden orientiert, die Einordnung des Inhalts.
Alexander-Martin Sardina: »Hello, girls and boys!« – Fremdsprachenunterricht in der SBZ und DDR, Berlin: Wolff Verlag, 2019. ISBN: 978-3941461-28-4
Weitere Informationen: https://www.wolffverlag.de/product-page/hello-girls-and-boys