von Sarah Ullrich
April 1945 – amerikanische Truppen erreichen die Stadt Weimar. Im benachbarten Konzentrationslager Buchenwald sollte das Lager zu Beginn des Monats komplett geräumt werden. Im Laufe der achtjährigen Bestandszeit gelang es politischen Gefangenen, meist Kommunisten unterschiedlicher Nationalität, eine illegale Widerstandsorganisation aufzubauen, das Illegale Lagerkomitee. Diesem gelang es mit dem Luftangriff auf Buchenwald wenige Monate zuvor, Waffen aus dem daneben liegenden Gustloffwerk, einer ab 1943 entstandenen Waffen- und Munitionsfabrik, ins Lager zu schmuggeln und zu verstecken. Mit den Transporten Anfang April 1945 von Buchenwald in andere noch nicht befreite Konzentrationslager des Deutschen Reichsgebietes, sollte Buchenwald vor dem Eintreffen der Alliierten geräumt werden. Das Illegale Lagerkomitee rief zum Boykott auf, spielte auf Zeit; weil die US amerikanischen Truppen bereits vor Erfurt standen und auf dem Ettersberg das Frontgefeuer zu hören war. Schlussendlich gelang es der SS nicht mehr, alle im Lager inhaftierten Menschen aus Buchenwald zu bringen, sodass etwa 21000 Menschen die Befreiung erlebten. Dennoch griffen die Inhaftierten nicht zu den Waffen, aus Angst vor einem letzten Massaker seitens der SS. Mit den Räumungstransporten und dem Abziehen des Kommandanturstabes am Morgen des 11. April 1945 verblieben nur noch wenige Angehörige des Wachmannschaften im Lager. Am Vormittag des 11. April 1945, mit dem Sichten erster amerikanischer Panzer in der Umgebung des Lagers, fällt die Entscheidung: Das Illegale Lagerkomitee ruft zum bewaffneten Widerstand auf, die letzten Angehörigen der SS werden gefangen gesetzt, das Komitee übernimmt kurzzeitig die Verwaltung des Lagers bis es an die eintreffenden US amerikanischen Truppen übergeben werden kann. Diese beginnen sich um die Überlebenden zu kümmern und die vorgefundenen Zustände zu dokumentieren. In diesem Zusammenhang entstand auch das hier besprochene Bild, am 16. April 1945.
Es war zwar nicht das erste Lager, das von alliierten Truppen befreit worden war, doch in allen bis dato befreiten Lagern ließ die SS kaum Überlebende zurück, sondern trieb sie auf Todesmärsche, die die inhaftierten Menschen Richtung Reichsmitte bringen und auf andere Konzentrationslager aufteilen sollten.
Buchenwald bildete keine Ausnahme: Von den 48000 Menschen im Lager am Anfang des Monats konnten 21000 in Buchenwald befreit werden. Zum ersten Mal bestätigte sich also, was den Alliierten schon Jahre zuvor bekannt, aber immer wieder als Kriegspropaganda der gegnerischen Seite abgetan worden war: Konzentrationslager als Orte vollkommener Entmenschlichung und Grauen, und dabei ein ausgeklügeltes, in ihre Umgebung integriertes und von ihr unterstütztes System, das nur wenig dem Zufall überließ.
Das Entsetzen darüber veranlasste General D. Eisenhower, zu diesem Zeitpunkt Oberbefehlshaber über die alliierten Streitkräfte in Europa, erste amerikanische und britische Delegationen in das eben befreite Lager zur Besichtigung zu bringen. Darunter waren nicht nur Parlamentarier, sondern auch Journalisten, die später über die vorgefundenen Zustände berichteten. Diese Bilder gingen um die Welt, beginnend mit ersten Aufklärungskampanien, Veröffentlichungen, Filmvorführungen und Bildbänden, die bereits ab Mai 1945 von den Alliierten publiziert worden waren. Sie prägten zunehmend das Bild der „nationalsozialistischen Verbrechen“.
Das Kleine Lager
Dieser Bereich wurde zunächst als Quarantänebereich im Herbst 1943 errichtet. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung der Konzentrationslager im Kriegsverlauf, dem massiven Verleih von KZ-Häftlingen an Unternehmen der deutschen Wirtschaft und dem damit einhergehenden Transporten zwischen den Lagern, entstanden solche Quarantänebereiche, um die Ausweitung von Seuchen unter den Lagern zu unterbinden. Mit der Befreiung des Konzentrationslagers Lublin-Majdanek im Osten des noch besetzten Polens im Sommer 1944 und der damit einsetzenden ersten Räumungswelle des KZ-Komplexes Auschwitz, stieg auch die Zahl der Inhaftierten in Buchenwald sprunghaft an. Somit wurde das Kleine Lager zu einem Sterbelager umfunktioniert. Ab 1944 war es der Ort des Massensterbens in Buchenwald. Entsprechend grausam waren die Bedingungen dort: die Unterbringung erfolgte in fensterlosen

Das Kleine Lager Buchenwald im Juni 1944, illegal aufgenommen von Georges Angéli. Er war Mitglied des Häftlingskommandos Fotoabteilung, daher konnte er an einem Sonntag eine Kamera entwenden und heimlich Abzüge anfertigen, um den gestellten und geschönten Fotos der SS etwas entgegensetzen zu können und die Situation im Kleinen Lager aus einer anderen Perspektive darstellen. Sommer 1944 war ein Zeitpunkt der absoluten Überbelegung, im Hintergrund ist noch ein Militärzelt zu erkennen, die kurzzeitig dort aufgestellt wurden. (Quelle: Privatbesitz, Buchenwald Archiv Signatur: 007-01.003, Fotograf: Georges Angéli, Juni 1944)
Wehrmachtspferdeställen, die ursprünglich für etwa 50 Pferde ausgelegt worden waren. Für Februar 1945 sind Belegungen von etwa 2000 Menschen pro Baracke nachweisbar. Die Waldwege zwischen den Baracken waren aufgeweicht, Toiletten oder Waschbecken gab es kaum, die Wasserversorgung des Lagers ohnehin überlastet, lediglich eine Latrine gab es in diesem Bereich. Im Februar 1945 waren dort insgesamt 20000 Menschen inhaftiert.
Zuletzt wurde dort eine große Zahl von Menschen inhaftiert, die von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt worden waren. Dies war auch ein Grund dafür, dass diesem Bereich in der DDR keine Bedeutung zugemessen wurde. Den Opfern der Gruppe der jüdischen Häftlinge wurde nicht gedacht, damit endete das Gebiet der DDR-Gedenkstätte an der ehemaligen Grenze zum Kleinen Lager, der Bereich wurde bis dahin wieder aufgeforstet. Erst mit der politischen Wende 1989/90, der Einrichtung einer Historikerkommission und der Umstrukturierung der Gedenkstätte, wurde diesem Bereich und diesem Teil der Lagergeschichte wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Entstehung der Bilder
Die bekanntesten dieser Bilder von Buchenwald wurden im Bereich des sogenannten Kleinen Lagers aufgenommen, auch das bekannteste darunter, mit Simon Toncman im Fokus und daneben, auf den Bettpritschen liegend, andere befreite Menschen.
Im Gegensatz zu den Sowjets führten die Amerikaner Einheiten mit sich, deren Aufgabe es war, das Kriegsgeschehen zu dokumentieren, was dann auch auf die befreiten Konzentrationslager zutraf. Für Buchenwald bedeutete dies, dass bereits am 16. April 1945 ein Team der Abteilung für psychologische Kriegsführung eintraf, die Überlebende interviewten, Berichte anfertigten, und versuchten, die Zustände zu dokumentieren. Dies gilt es bei der Analyse solcher Bilder zu berücksichtigen, die genau zu diesem Zwecke der Dokumentation angefertigt worden waren und dennoch weniger zeigen, als wir in ihnen zu sehen meinen.
Danach werden erste Delegationen durch das befreite Lager geführt, nicht nur Abgeordnete des britischen Parlamentes und des amerikanischen Kongresses, auch Fotografen und Journalisten waren darunter. In den ersten drei Wochen nach der Befreiung Buchenwalds starteten die Alliierten eine Pressekampagne, in der von den Zuständen im Lager berichtet wurde. Ein weiterer Umstand kommt dazu: Buchenwald war das erste Lager, was die Alliierten vorfanden, in dem noch so viele Überlebenden waren, die die SS nicht auf Todesmärsche geschickt hatte. Daher kam ihm eine enorme Aufmerksamkeit zu. Neben den KZ Mittelbau und Bergen-Belsen, in denen anfangs auch noch Delegationen durchgeführt wurden, nahm die Praxis bzw. die Möglichkeit dazu ab. Für Buchenwald erging erst am 9. Mai ein Befehl von General Patton, das Lager für Besichtigungen zu schließen, da es aufgeräumt sei:
„die Kranken wurden anderweitig untergebracht, die Toten sind beerdigt worden, so daß sich kaum noch etwas von den hier verübten Verbrechen erkennen läßt. Damit entfällt der erzieherische Wert eines Besuchs […] Es ist sogar so, daß die seinerzeit hier herrschenden unbeschreiblichen Zustände von vielen bereits bezweifelt werden“.
Für das eben befreite KZ Dachau galt die Möglichkeit zur Besichtigung nur wenige Tage, da es am 10. Mai wegen einer ausgebrochenen Typhusepidemie dafür für unzugänglich erklärt wurde. Die Sowjets hingegen hatten bei der Befreiung der Lager im Osten keine Kamerateams dabei – alle Aufnahmen entstanden im Nachhinein. Ausgehend von der Vorstellung, die Kamera bilde die Wirklichkeit ab, die sich vor ihrem Objektiv ereignete, fokussierte man sich also auf die Aufnahmen, die man in Buchenwald, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen und Dachau gemacht hatte. Mit anderen Worten: es verwundert kaum, dass so viele Bilder, speziell solche, die in Buchenwald aufgenommen wurden, später um die Welt gingen, und im Nachhinein das heutige Bild von Konzentrationslagern im kollektiven Gedächtnis prägen. Besonders die USA unterstützte die Verbreitung dieser Bilder. Damit wandelte sich die besondere Schwere der Verbrechen in eine besondere Schwere der Schuld. Sie verfolgten die Politik der „viewing the atrocities“, in der man vor allem unbekleideten Menschen eine Schlüsselrolle zuwies.
Dazu kommt die Erstmaligkeit dieser Fotos. Bis in den Ersten Weltkrieg hinein war es aufgrund der technischen Voraussetzungen nicht möglich, da man noch für die Erzeugung von Fotos lange Belichtungszeiten und die Ausrichtung an einem Stativ benötigte. Erst mit der Entwicklung der ersten Kleinbildkamera von Leica 1924, und damit der Loslösung vom Stativ, wurde dies möglich und fand große Bedeutung für den Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939, in dem erstmals Nahaufnahmen vom Kampfgeschehen entstanden. Jedoch blieben Greuelbilder zu diesem Zeitpunkt eine Seltenheit. Dies änderte sich zum Ende des Zweiten Weltkrieges und einer großen Verbreitung solcher Bilder durch die Alliierten.

Rechts stehend: Simon Toncman (Haft-Nr. 126692). Untere Pritsche 1. v. l. Miklos Grüner (Haft-Nr. 120762), 4. v. l. Max Hamburger (Haft-Nr. 137348), 2. Reihe, 3. v. l. Willi Kessler (Haft-Nr. 120570), 4. v. l. Hermann Leefsma (Haft-Nr. 130305), 7. v. l. Elie Wiesel (Haft-Nr. 123565), 3. Reihe, 3. v. l. Paul Argiewicz (Haft-Nr. 126259), 5. v. l. Naftalie Furst (Haft-Nr. 120041), 6. v. l. Leonardus Groen (Haft-Nr. 129244), 4. Reihe, 4. v. l. Mel Mermelstein (Haft-Nr. 130508). (Quelle: Buchenwald-Archiv Signatur: 020-46.007, Aufnahme aus dem Kleinen Lager Buchenwald, 16.April 1945; Fotograf: Harry Miller)
Bildaufbau
Dieses berühmte Bild wurde von Harry Miller am 16. April 1945 aufgenommen. Er arbeitete seit 1943 in der 166th Signal Photographic Company der U.S. Army und fotografierte somit auch das befreite KZ Buchenwald. Bei genauer Betrachtung verwundert es nicht, warum dieses Bild so bekannt geworden ist, und neben wenigen anderen das kollektive Gedächtnis prägen.
Ein Grund, warum ausgerechnet dieses Bild das Gedächtnis von Buchenwald prägte wie kaum ein anderes, liegt mit Sicherheit im Bildaufbau begründet. Die Perspektive wird so gewählt, dass die Bettgestelle im Bild auslaufen und somit den Fluchtpunkt bilden. Damit lenken die Querbalken der Bettgestelle den Blick des Betrachter genau auf Simon Toncman. Dadurch wird er zum Fokus und zum eigentlichen Thema des Bildes. Dies impliziert die Aussage, dass die übrigen abgebildeten Menschen in einem ähnlichen körperlichen Zustand sind, auch wenn der Betrachter die jeweiligen Körper nicht sieht.
Eine weitere Fokussierung auf Toncman wird durch die Belichtung erzeugt. Wahrscheinlich wurde eine hohe Belichtungszeit eingestellt; dadurch entsteht ein höherer Kontrast, sodass Toncmans Oberkörper zum hellsten Punkt im Bild wird. Verstärkt wird dieser Effekt nochmals dadurch, dass es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme ist. Zwar ist das zur dieser Zeit das gängige Mittel, doch weitere Aufnahmen aus dem befreiten KZ Buchenwald zeigen, dass die Möglichkeit der Farbaufnahme durchaus bestand. Ähnliches gilt für die Blechschüsseln, die auf den Bettgestellen liegen. Die Metallschüssel reflektieren bei der Aufnahme das Licht und verstärken somit die durch die Querbalken ohnehin erzeugte Wirkung. Dies gelingt auch, weil die Umgebung dunkel bleibt. Die Baracken im Kleinen Lager waren fensterlose Wehrmachtspferdeställe, die ohnehin keine Lichtquelle hatten und für die Aufnahme auch nicht weiter ausgeleuchtet wurden. Dies ist auch nicht nötig, da das Anliegen dieser Fotografie eindeutig das Einfangen der Zustände im Lager ist. Damit soll sie auch Informationen liefern über die Zustände im Lager vor der Befreiung. Damit werden die eigentlichen Verbrechen dokumentiert: zu harte körperliche Arbeit in Kombination mit mangelnder medizinischer Versorgung und unzureichender Nahrung in jeder Hinsicht, die die Menschen sehr schnell abmagern ließ und welches bei den Menschen, die im Kleinen Lager inhaftiert waren soweit fortgeschritten war, dass keine Zwangsarbeit mehr leisten konnten.
Ein weiteres Stilmittel wird bei genauer Betrachtung ebenso sichtbar. Das optische „Stoppen“ des Verlaufs der Querbalken durch Simon Toncman erzeugt, dass sich das Ausmaß der Baracke nicht erkennen lässt. Hier greift eine Eigenschaft von Fotografie: sie verzerrt Proportionalität. Betrachtet man die Bildränder, wird klar, dass die Reihen von Bettgestellen weitergehen. So entsteht der Eindruck einer gewissen Unendlichkeit. Auch wenn der Betrachter weiß, dass ein Gebäude nicht unbegrenzt groß sein kann, so wird ihm doch die Einschätzung dieser Dimension verwehrt und deutet so auf einen Ausschnitt der Situation hin. Die Tatsache, nur ein Ausschnitt einer Situation zu sein, weist eine Fotografie ohnehin auf. Doch wird diese Eigenschaft von vielen Betrachtern nicht mitgedacht, aber an dieser Stelle der Betrachtung ersichtlich.
Beachtend was Susan Sontag schrieb: „Und jedes Bild wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht“, lautet die originale Bildunterschrift:
„These are slave laborers in the Buchenwald concentration camp near Jena, many had died from malnutrition when U.S. troops of the 80th Div. entered the camp. 16 April 1945.“
Zwar lässt sich hier keine falsche Beschreibung finden, im Gegensatz zu anderen Darstellungen, doch spiegelt sich in dieser durchaus der Zeitpunkt der Befreiung wider. Erkennbar wird dies an der Verallgemeinerung von „slave laborers“, Zwangsarbeiter, obwohl zu diesem Zeitpunkt die dort inhaftierten Menschen gar nicht mehr zur Zwangsarbeit eingesetzt werden konnten, da sie dafür viel zu schwach waren. Dies ist aber offensichtlich dem Zeitpunkt geschuldet, da mit dem Auffinden der Lager zunächst erstmal recherchiert werden musste, welche Organisation und Einteilung den Lagern zugrunde lag. Interessanter erscheint hingegen der Ausdruck „malnutrition“, Unterernährung, die Haupttodesursache im Lager. Nun sind auf der Fotografie keine ausgemergelten Leichen zu sehen, doch mit dem Bildfokus auf Simon Toncman und seinem völlig abgemagerten Körper wird klar, dass auch er bald gestorben wäre, wenn die Amerikaner nicht das Lager übernommen und begonnen hätten, sich um die Überlebenden zu kümmern. Dies schließt auch alle anderen auf dem Foto abgebildeten Menschen ein. Toncman steht hier exemplarisch für alle. Auch wenn nicht bei allen Personen der Zustand ihres Körpers erkennbar ist, so bleibt eine Ahnung, wenn man die eingefallenen Gesichter sieht. Es lässt den Betrachter durch die „Präsentation“ des gesamten Körpers von Toncman an dieser Interpretation kaum zweifeln.
Der Umstand, dass Toncman seinen Genitalbereich mit einer Hose bedecken kann, birgt ebenso interessante Überlegungen. Da nicht klar ist, inwiefern diese Menschen dort freiwillig abgebildet worden sind oder schlichtweg zu schwach waren, um sich aus dem Bild herauszubewegen, verbleiben zwei Interpretationsmöglichkeiten. Dieses Bedecken kann demnach als eine Art Widerstand gelesen werden, was im Falle Toncmans eher unwahrscheinlich erscheint, da er stehen kann und somit vermutlich auch in der Lage gewesen wäre, das Bild zu verlassen. Näher liegt eher, darin einen Versuch zu erkennen, seine eigene Würde zu bewahren. Mit dem Wissen, dass diesen Menschen nicht nur äußerlich ihre Würde im Konzentrationslager genommen worden ist, sondern auch durch die Art und Weise ihrer Behandlung, wird klar, dass es sich hier genauso um einen Akt handeln kann, der versucht sich ein Stück dieser geraubten Menschenwürde zurückzuerlangen. Über diese Entscheidungsgewalt verfügt er jetzt, nach der Befreiung des Lagers. Hier findet sich ebenfalls ein Spezifikum des Mediums Fotografie wieder. Die Anwesenheit der Kamera beeinflusst auch das Verhalten der Menschen. Sind sie nicht mehr in der Lage, Körperteile zu verdecken oder Gestiken zu machen. Dies erscheint wahrscheinlicher, da sich auch drei Personen auf diesem Bild im vorderen Teil finden lassen, die den Kopf wegdrehen. Zwei von ihnen heben den Kopf, drehen ihn aber weg, dies ist ein Beleg für eine ganz bewusste Geste. Ob der dritte schläft oder nicht, ist auf dem Bild nicht erkennbar. Die Hypothese, er könnte ebenso tot sein, erscheint weniger plausibel, da es für die benötigte Zeit der Vorbereitungen es unwahrscheinlich erscheint, dass dann nicht auch Tote aus dem Bild beseitigt wurden. Ein Blick auf die Gesichtsausdrücke wirft mehr Fragen auf, als die Fotografie zu beantworten imstande ist. Hier wird es nicht mehr so einfach auszuschließen, ob diese Menschen freiwillig abgebildet worden sind oder nicht.
Verwendung des Bildes in „KZ – Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern“
Diese kleine Broschüre wurde 1945 vom Amerikanischen Kriegsinformationsamt herausgegeben, beauftragt wurden sie dafür vom Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte, General D. Eisenhower. Allein der Zeitpunkt der Veröffentlichung lässt viel über deren Intention erahnen. Anliegen der Publikation war es, das Wissen um die Verbrechen, die im deutschen Namen in den Konzentrationslagern begangen wurden, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies gewinnt besondere Brisanz, da beispielsweise die Alliierten am 16. April 1945 1000 Weimarer Bürger, meistens überzeugte und aktive Nationalsozialisten, zwangen, das soeben befreite Konzentrationslager zu besichtigen. Dennoch sahen sich die Alliierten mit einer Bevölkerung konfrontiert, die vom benachbarten Konzentrationslager und den dort begangenen Verbrechen nichts gewusst haben wollten. Nun war es aber nicht so, dass diese Verbrechen nicht bekannt gewesen wären.
In Zusammenarbeit von amerikanischen und britischen Nachrichtendiensten starteten die Alliierten eine Pressekampagne zur Befreiung der Lager. Mit der Produktion von Radiosendungen und Dokumentationen, dem Veröffentlichen von Zeitungsartikeln, Broschüren, Büchern und Fotoausstellungen, versuchten sie über verschiedene Wege dieses Bewusstsein bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu schärfen. Ein Beispiel dafür stellt die Broschüre „KZ – Bildberichte aus fünf Konzentrationslagern“ dar, welche bereits Ende Mai 1945 mit einer Auflage von 25000 Exemplaren herausgegeben wurde.

Die Bevölkerung Weimars wird zum Besuch des KZ gezwungen. (Quelle: Innenhof Weimarer Bevölkerung: National Archives Washington, Buchenwald-Archiv Signatur: 020-12.009
16.04.1945, Fotograf: Walter Chichersky.
http://www.fotoarchiv.buchenwald.de/index.php?id=1160#/fotos/1091)
Die Publikation beginnt mit einem ganzseitigen Bild aus Buchenwald, auf dem zu sehen ist, wie die Weimarer Bürger die Leichenberge auf einem Lastwagen im Innenhof der Verbrennungsanlage gezeigt bekommen – ebenfalls eine heute sehr bekannte und viel verwendete Fotografie.
Es folgt eine Einleitung, in der bereits die Intention der Veröffentlichung ganz deutlich hervortritt und es versucht wird, diese Broschüre zu legitimieren, da sie „jeden Deutschen [angeht]“. Bereits hier ist den Formulierungen zu entnehmen, was sich bis heute als Vorstellung und Prämisse in manchen Lernprozessen hält: das gedruckte Wort könne keine Vorstellung geben, daher setze man auf aufgenommene Bilder vom Ort und deren Wirkung.
Obwohl das Bild, wie bereits oben festgestellt, selbst keine Toten zeigt, transportiert der bildliche Kontext eine klare Botschaft.

Leichenwagen auf dem Innenhof des KZ Buchenwald. (Quelle: National Archives Washington, Buchenwaldarchiv Signatur: 020-12.007,
16.04.1945, Fotograf: Walter Chichersky
http://www.fotoarchiv.buchenwald.de/index.php?id=1160#/fotos/1089)
Unmittelbare Rahmung bildet ein weiteres Bild, besser gesagt ein Bildausschnitt, aufgenommen in Buchenwald von Walter Chichersky; es zeigt einen Lastwagen voll beladen mit Leichen von nahem.
Für alle drei Fotografien gilt, dass sie nur einen Ausschnitt der Originale zeigen – es erfolgt eine Fokussierung auf die Toten.
Fazit
Wichtig scheint mir im Umgang mit einem Bild, das wie kaum ein anderes das visuelle Gedächtnis eines Ortes geprägt hat, und im Laufe der Zeit sich sogar von diesem Ort löste und zu einem Symbol des Holocaust allgemein wurden, es nicht nur illustrativ einzusetzen. Gerade bei solchen Bildern ist es oft der Fall, dass die gegenwärtige Geschichtskultur auf sie zurückgreift. Daher scheint es umso wichtiger, diese Bilder genauer zu besprechen, um dann die entsprechenden Kontexte ihrer Verwendung zu entschlüsseln, genauso wie die möglichen Intentionen der Gestalter.
Das oben behandelte Bild beinhaltet durchaus einige interessante Hinweise auf die Zustände im Lager, natürlich nur unter Beachtung der zeitlichen Umstände und mit dem Wissen, dass dies nicht zwangsläufig auch für die Zustände im Kleinen Lager 1943 beispielsweise zutreffen muss. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, zu betonen, dass Fotos nur Ausschnitte der Wirklichkeit sein können, sowohl räumlich, als auch zeitlich. Das Bild kann keine Rückschlüsse auf die Zustände des Lagers im Jahr 1943 erlauben, es kann nicht einmal zeigen, was unmittelbar vor oder nach der Aufnahme mit den Menschen passierte, die sie abbildet – Ausschnitt meint in diesem Beispiel auch, dass alle anderen Orte im Lager ausgeschlossen werden. Ein Merkmal dieser Fotografie ist die Abbildung von Überlebenden: der Tod ist durch den gezeigten körperlichen Zustand der abgebildeten Menschen nur unterschwellig anwesend. Klare Aussagen dazu liefert das Bild nicht. Es klammert somit das massenhafte Sterben aus, das auch noch nach der Befreiung weiterging.
Die besprochenen Beispiele in der Verwendung zeigen aber, wie in Büchern oder im Rahmen einer Broschüre versucht wird, diese Dimension und Interpretationsrichtung des Bildes durch die Rahmung dem Betrachter nahezulegen und somit in gewisser Weise doch ins Bild zu integrieren.
Damit wäre ein weiterer Trugschluss angesprochen: durch die Vorstellung, Fotografien bildeten die Wirklichkeit ab, wird der Eindruck erweckt, sie zeigen die Wirklichkeit im Konzentrationslager. Dies tun sie aber nur insofern, als dass sie die chaotische Endphase zeigen, in der die SS schlichtweg mit der Masse an Leichen überfordert war. Damit sagen sie nichts über die Zustände im „funktionierenden“ Konzentrationslager aus, wofür sie aber oft herangezogen werden.
Ein generelles Bildverbot, würde schlussendlich auch nur dazu führen, eine Leerstelle entstehen zu lassen. Unabhängig davon, wie man zum Einsatz solcher Bilder generell steht (immerhin verletzten sie die Würde der dargestellten Menschen, stellen sie zur Schau und reduzieren sie auf Objekte):
Sie bezeugen eine Tat; denn diese Bilder würden ohne die nationalsozialistischen Verbrechen nicht existieren. Auch wenn sie sie nicht unmittelbar abbilden, so eröffnen sie doch Fragen nach deren Ursachen oder nach den handelnden Personen und eröffnen so den Blick auf die Täter. Susan Sontag formuliert es folgendermaßen:
„Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf die sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier, anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht“
Historische Dokumente
„KZ – Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern“ war eine von den Alliierten im April 1945 veröffentlichte Broschüre in allen Besatzungszonen zur Verbreitung und Aufklärung über nationalsozialisitsche Verbrechen, auch um der oft aufgestellten Behauptung entgegenzuwirken, dass die deutsche Bevölkerung nichts von den nationalsozialistischen Verbrechen gewusst habe. Link zu einem Digitalisat der Broschüre:
http://www.nrw.vvn-bda.de/bilder/kz.pdf
Zum Weiterlesen:
Sontag, Susan: Das Leiden der anderen betrachten, München 2003.
Brink, Cornelia/Wegerer, Jonas: Wie kommt die Gewalt ins Bild? Über den Zusammenhang von Gewaltakt, fotografischer Aufnahme und Bildwirkungen, in: Fotogeschichte 125 (2012), S. 5-14.
Brink, Cornelia: Vor aller Augen. Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 47 (2008), S. 61-74.
Knoch, Habbo: Die Tat im Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
Kramer, Sven: Nacktheit in Holocaust-Fotos und -Filmen, in Kramer, Sven (Hg.): Die Shoah im Bild, München 2003, S. 225-248.
Zur Autorin: Sarah Ullrich, studiert Geschichte, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie arbeitet seit fünf Jahren als freie Mitarbeiterin in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und ist Mitglied der Vereine „Jugend für Dora“ e.V. und „Gesellschaft Kulturerbe Thüringen“ e.V.
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