„Wer hat, sollte geben“

Eine Würdigung anlässlich der Verleihung der „Sebastian-Lucius-Medaille”

von Robert von Lucius

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Foto: Johann-Adrian v. Lucius

ERFURT – Die Industrie- und Handelskammer Erfurt hat eine „Sebastian-Lucius-Medaille“ geschaffen, benannt nach ihrem Gründungspräsidenten. Damit will sie Menschen auszeichnen, die sich um die Wirtschaft in Thüringen verdient gemacht haben. Der Kammerpräsident Dieter Bauhaus sagte bei der ersten Verleihung am 19. September 2013 im Anschluss an die Vollversammlung der Kammer, Sebastian Lucius verkörpere „wie kein anderer“ den ehrenwerten Kaufmann. Die erste Medaille verlieh die Kammer an den FAZ-Journalisten und Ururenkel des Namensgebers, auch stellvertretend für die gesamte Familie Lucius, die – so Bauhaus – „mit ihrem deutschlandweiten Wirken den Wirtschaftsstandort Thüringen über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht“ habe. Robert von Lucius – Mitglied der Gesellschaft Kulturerbe Thüringen – würdigte vor der Verleihung Sebastian Lucius und die Familie. Damit vervollständigt von Lucius das Bild einer verdienstvollen Familie, das er vor zweieinhalb Jahren in dem bis heute vielbeachteten Artikel „Non dormire“ zu zeichnen begonnen hat.

Sebastian Lucius: ein ehrbarer Kaufmann

Wer hat, sollte geben – das war das Motto für Sebastian Lucius. Er arbeitete sich durch Fleiß und Talent aus beengten Verhältnissen hoch und belegte, auch darin ein Vorbild, dass „alles geht“. Als er 1857 starb, war er nicht nur der reichste Bürger Erfurts, sondern auch der Spender einer Vielzahl von Stiftungen für seine Heimatstadt – eines Altenheims etwa, eines katholischen Krankenhauses und einer Erziehungsanstalt. Er ließ zweimal in Zeiten der Hungersnot an Bedürftige kostenlos Brot verteilen, was ihm so manche kurzsichtiger denkende Kaufleute verübelten.

Kommerzienrat Sebastian Lucius gründete auf Anregung des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen vor 168 Jahren die Industrie- und Handelskammer Erfurt. Zwölf Jahre lang von 1845 an war der Wollstrumpffabrikant bis zu seinem Todestag am 18. September 1857 deren erster Präsident. Sein Sohn Ferdinand leitete die Kammer als Präsident sogar 27 Jahre lang, länger als jeder andere, und gründete 1867 die erste Handelsschule in Erfurt. 38 der ersten 61 Jahre der Kammer war ein Lucius Kammerpräsident: für uns Schnelllebige eine fast beängstigende Zahl. In seinen Jahren als Präsident setzte der Namensgeber der Medaille sich ein für einheitliche Maße, Münzen und Gewichte, für den Bau von Chausseen und das Eisenbahnnetz, und für einen einheitlichen Binnenmarkt.

Die Familie Lucius war auch an anderen thüringischen Unternehmensgründungen beteiligt, Sebastians Sohn Robert Freiherr Lucius von Ballhausen etwa, obwohl in erster Linie Politiker, an der ersten Zuckerfabrik in Thüringen sowie mit der Versicherungsgesellschaft Thuringia dem ersten praktizierenden Unfallversicherer Deutschlands, dem ersten deutschen Kompositversicherer für gleich mehrere Sparten und der ersten Erfurter Aktiengesellschaft. Die unternehmerische Ader hatten auch zwei andere Söhne geerbt – der Chemiker Eugen Lucius, der Hauptgründer der Farbwerke Hoechst vormals Meister Lucius & Brüning, und für Erfurt wichtig Ferdinand Lucius. Ferdinand führte die Unternehmungen seines Vaters in Erfurt, im Eichsfeld und im Süden Thüringens fort und baute sie weiter aus.

Dass Sebastians herausgehobene Rolle in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Erfurts und Thüringens, und natürlich dieser Kammer, geehrt wird, ist zugleich eine weitere symbolische Rückkehr der Familie nach Erfurt, nachdem Sebastians Vater Johann Anton Lucius einer Straße seinen Namen gab und vor allem die Berufsbildungsschule in Gispersleben sich vor gut fünf Jahren Sebastian-Lucius-Schule nannte.

Sebastian Lucius war ein ungewöhnlicher Mensch. Er arbeitete sich aus schwierigen Umständen hoch. Er blieb bescheiden, wie sich aus seiner unveröffentlichten Selbstbiographie ergibt. Dort schreibt er zu seiner Schulausbildung „Erzogen bei der großen Anzahl von Geschwistern in sehr kleinen Verhältnissen“ und dann den Kernsatz „Was mir an Talent abging, ersetzte ich durch einen rastlosen Eifer“. Ihn habe angetrieben „ein unermüdlicher Fleiß, Ausdauer, Folgsamkeit und gutes sittliches Betragen“ – alles außer vielleicht der Folgsamkeit weiterhin gute kaufmännische Tugenden. Dazu kam, dass er einen Satz mithörte des damaligen letzten kurmainzischen Statthalters Karl von Dalberg an seinen Vater „Wir haben der Handelsleute schon genug hier; unsere Katholiken hier sind entweder faule Klosterfüchse oder Bettler“. Diesen Satz, sagte Sebastian Lucius, habe er nie vergessen – er sei ihm immer ein Stachel gewesen, wenn ihm die Ausdauer in seinen Unternehmungen fehlen wollte.

Ein Teil der „Erfurter Erinnerungskultur“

Ein weiteres Motiv mag neben der Konfession die regionale Herkunft innerhalb Deutschlands gewesen sein: Der Marburger Soziologe Dirk Kaesler weist in einer Studie zu den Beziehungen zwischen den Familien Weber (also der großen Nationalökonomen Max und Alfred Weber) und Lucius darauf, dass sie sich als engagierte Preußen auch verstanden, weil sie nicht aus preußischen Stammlanden kamen, sondern aus der preußischen Provinz. Minderheitsrollen also als Motiv für besondere Leistungen. Diese führten dazu, dass der Jenenser Historiker Hans-Werner Hahn in seiner wunderbaren Studie zum Bürgertum in Thüringen sich auf die Erfurter Familie Lucius konzentrierte als „ein beeindruckendes Beispiel für den Aufstiegsprozess bürgerlicher Familien“. Sie sei, so Hahn, „eine der bedeutendsten Familien des thüringischen, ja des deutschen Bürgertums“. Professor Hahn freute sich darüber, dass durch die Initiative der Kammer „Sebastian Lucius in der Erfurter Erinnerungskultur wieder eine so wichtige Rolle spielt“. Er hoffe, dass es weitere Forschungen geben werde zur Geschichte des Erfurter Bürgertums. Übrigens verdanken wir Hahn eine weitere Erkenntnis, die sich gerade auch auf die Lucius-Familie bezieht: dass „den Frauen im Aufstiegsprozess des neuen Bürgertums eine viel größere Rolle zufiel, als dies lange gesehen worden ist“. Das gilt übrigens auch für die karitativen Spenden, wenn man den hohen Anteil weiblicher Familienangehöriger der Lucii sieht, die beim katholischen Krankenhaus und beim Altenheim spendeten.

Zurück zu Sebastian: Eine Familiengeschichte berichtet, er sei ein „ungewöhnlich begabter, sehr lebhafter Knabe“ gewesen und ein Liebling seiner Lehrer. Damals, kurz nach der Französischen Revolution 1789, waren in Erfurt viele französische Flüchtlinge. Gegen freien Mittagstisch gaben sie Unterricht in Französisch und Italienisch, was der Knabe begierig aufnahm. Das half ihm später als Kaufmann: Er reiste viel und oft ins Ausland und baute so den Textilhandel der Stadt Erfurt und seines Unternehmens aus. Zunächst aber ging er bei seinem ältesten Bruder in die Lehre in Frankfurt-Höchst. Den größten Teil des Weges ging er zu Fuß. In diesen eineinhalb Jahren baute er seine Sprachkenntnisse aus und lernte italienische Buchführung. Seine Sprachfertigkeit war in den Jahren französischer Besatzung Erfurts gefragt. Sein Geschick half ihm, nach seiner Rückkehr die elterliche Handelsfirma vor dem Konkurs zu retten und rasch um eine Fertigung auszubauen. Robert Freiherr Lucius von Ballhausen schreibt in seiner unveröffentlichten Selbstbiographie über seinen Vater: „Seine Handschrift war sehr fest, und die zahlreichen Bücher mit Geschäftskalkulationen sind wie gestochen sauber ohne Korrekturen geschrieben“ sowie „ganz unbeschäftigt konnte er nie sein“. Sein Vater war „äußerst mäßig in allen Lebensgenüssen“.

Nachkommen von Sebatian Lucius vor dem Portal des Lucius Hauses/Dachroeden-Haus (Foto: privat)

Nachkommen von Sebastian Lucius vor dem Portal des Lucius Hauses/Dachroeden-Haus (Foto: privat)

Er konnte schon 1814, im Alter von nur 32, das „Haus zum güldenen Hecht“ am Anger kaufen, das er später mit dem Nachbarhaus „Haus zum großen und neuen Schiff“ verband, eines der großen Renaissance-Häuser der Stadt. Bis 1945 war das geschichtsträchtige Doppelhaus Wohnort, Firmensitz und Eigentum der Familie. Es hieß über 130 Jahre hinweg Lucius-Haus, seitdem ist es als Dacherödensches Haus bekannter – kundige Stadtführer nennen aber meist beide Namen. In DDR-Jahren wurde von hier aus zentral das Gesetzblatt der DDR versandt, jetzt ist es ein Kulturzentrum der Stadt. Über dem Portal steht weiterhin der Name Johann Anton Lucius eingemeißelt. Und vor ihm steht der Obelisk als Monumentalbrunnen, dessen Bau großteils von der Familie ermöglicht wurde – der Volksmund nannte ihn „Lucius’scher Zahnstocher“.

Technischer Fortschritt im Reisegepäck

1825 reiste Sebastian erstmals nach England, wo er sich über den Baumwollmarkt unterrichtete und die erste Eisenbahn mit Lokomotivbetrieb sah. Viele weitere Auslandsreisen folgten, auch nach Rom, wo ihn der Papst empfing. 1841 warb er mit Erfolg im Auftrag der Stadt Erfurt in Berlin beim preußischen König und bei allen Ministern dafür, dass die geplante Eisenbahn Merseburg-Kassel über Erfurt führen werde. Als er zurückkam, dankte ihm der Stadtrat im April 1841 für sein „so gütig gebrachtes Opfer“, weil er auch hier „einen neuen Beweis Ihres alt bewährten Bürgersinns“ gebracht habe. Zwei Dinge, sagt eine Erfurter Wirtschaftsgeschichte, habe Erfurt in den 1840ern vorangebracht – der Eisenbahnanschluss und die Dampfmaschine. An beiden war der weitsichtige Sebastian Lucius beteiligt. Der innovationsfreudige Fabrikant führte in Erfurt die erste Dampfmaschine ein und den ersten mechanischen Webstuhl, und baute Faktoreien im Eichsfeld und in den schwarzburgischen Gebieten des Thüringer Waldes. 1842 beschäftigte seine Firma Johann Anton Lucius schon 860 Arbeiter. Dabei war ihm wichtig, dass man als Unternehmer nicht auf staatliche Subventionen setzen dürfe, sondern dass es vor allem auf die eigene Kraft und das eigene Geschick ankam – auch insofern ein ehrbarer Kaufmann, dessen Leitbild nicht immer befolgt wird. Er stand auch in hohem Alter regelmäßig um fünf Uhr früh auf und arbeitete ohne Unterbrechung bis zum Abend. So traf sein Wahlspruch, und jener der Familie Lucius, auf ihn zu: Non dormire, Nicht Schlafen.

„Wer hat, sollte geben“

Als 1843 wie auch 1847 in Erfurt große Teuerungen kamen, kaufte Sebastian Lucius große Mengen von Roggen und ließ an Bedürftige kostenlos Brot verteilen, anderen verkaufte er den Roggen weit unter dem Marktpreis. Das stieß bei Bäckern und bei Händlern, die an der Not verdienten, auf Ungemach. Es war gewiss kein Zufall, dass der Erfurter Handelskammerbericht von 1856, also in seinem letzten vollen Jahr als Kammerpräsident, die „durch verfeinerten Lebensgenuß aufgestachelte Sucht nach Gewinn bedauerte“. Einen ähnlichen Einsatz für seine Mitbewohner, deren Missgunst ihm das Leben in Erfurt bisweilen vergällt zu haben schien, hatte er schon drei Jahrzehnte zuvor gezeigt. Als zurückflutende napoleonische Truppen mit Bagage und Munition in Erfurt strandeten und für die Stadt eine schier untragbare Last wurden, organisierte der Textilfabrikant die nötigen Speditionsleistungen und legte eine halbe Million Francs an Beförderungsgebühren aus. So bewahrte er die Stadt vor anhaltender belastender Einquartierung.

Ähnlich berichtete die Dorfchronik von Ballhausen zwischen Straußfurt und Bad Tennstedt, er habe dort in den Jahren der Teuerung „mannigfaltige Wohltaten den Armen der Gemeinde erwiesen“. 1851, sechs Jahre vor seinem Tod, hatte Sebastian Lucius das Rittergut Klein-Ballhausen erworben, das in seinen letzten Jahren im Sommer sein Lieblingsaufenthalt wurde. Dort starb er. In Ballhausen sind an der Kirchwand mehrere Familienangehörige begraben. Eine Geschichte Klein-Ballhausens vermerkt, dass mit dem Kauf die „ständigen Streitereien zwischen Gutsherrschaft und Gemeinde“ aufhörten.

Sebastian Lucius und seine Frau Marianne, geborene Hebel, stifteten am Hopfenberg das Grundstück und das Kapital zum Bau eines Altenheimes, das bis unlängst weiterhin Lucius-Hebel-Stift hieß, und das Grundstück und Kapital für das Katholische Krankenhaus Hlg. Nepomuk. Sebastian hatte zudem Anteil an der Gründung der Volkschen Erziehungsanstalt. Der Kommerzienrat stiftete zehnmal so viel wie der preußische König zum Bau des Krankenhauses. Seine sieben überlebenden Kinder – alle wurden im Lucius-Haus am Anger geboren – stifteten ebenso namhafte Summen zum Pflegeheim und zum Krankenhaus. Unlängst gab es eine Umfrage, welches Krankenhaus in Thüringen den höchsten Rang genießt: Das war sein katholisches Krankenhaus. Die Stiftung steht weiterhin unter der Obhut der katholischen Kirche und des Bischofs von Erfurt. Sebastian Lucius war einer der wenigen wirtschaftlich erfolgreichen katholischen Bürger Erfurts. Mindestens zweimal konnten die Schwestern und die Oberin Versuche des Staates wie auch der Kirche, den Zweck des Gebäudes zu entfremden, abwehren – diese in der Stiftungsurkunde als zwingend vorgegebene Tradition scheint derzeit nicht mehr so recht gepflegt zu werden. In den Aufenthaltsräumen des Altersheimes hingen zumindest in früheren Jahren, vor und nach der Wende, Porträts von Sebastian Lucius und seinem Sohn August. Diese Einsätze für andere bewegten die Schüler und den Schulträger der Sebastian-Lucius-Schule zur Namensgebung, und nun die Kammer. Damals, vor fünf Jahren, nannte die Thüringer Landeszeitung ihn einen „fürsorglichen Erfurter Kaufmann mit großem Herzen für soziale Belange“ und die Thüringer Allgemeine ihn einen „tadellosen Erfurter“.

Sein Testament schloss Sebastian Lucius mit dem Satz „dass unter meiner ganzen Hinterlassenschaft nach meinem besten Wissen nicht ein Pfennig ungerechtes zum Schaden eines zweiten erworbenes Gut ist“. Er verdanke alles nächst Gottes Segen „der glücklichen Wahl einer durch und durch braven Hausfrau“ und dem „Besitz einer unverwüstlichen Gesundheit, der Sparsamkeit an mir selbst und der Liberalität gegen Andere“. Als er starb, war Sebastian Lucius der wohlhabendste Bürger Erfurts und der höchste Steuerzahler. Das Grabdenkmal von Sebastian und Marianne Lucius wurde, nachdem das Erbbegräbnis auf dem Krämpferfriedhof und später dem Südfriedhof aufgehoben wurde, an der Außenwand der Lucius-Hebel-Stiftung wieder errichtet an der Kartäuserstraße 57 – derzeit wird es renoviert.

Man bot Sebastian Lucius 1848 einen Sitz in der Preußischen Nationalversammlung an oder im Frankfurter Paulskirchen-Parlament. Das lehnte er ab. Immerhin war er Delegierter bei der Versammlung deutscher Fabrikanten und Kaufleute. Zudem regte er 1848 als Präsident der Kammer die Gründung eines „Industrie-Vereins des Thüringischen Zollgebiets“ an, dessen Vorstand er angehörte. Seine vier überlebenden Söhne aber wurden alle Abgeordnete des Reichstages, und das in drei verschiedenen Parteien. Vier Brüder im Parlament in Berlin – das sei einmalig in der deutschen Parlamentsgeschichte, sagen Parlamentshistoriker.

Reiselust und Heimatverbundenheit im Blut

Etwas Weiteres hatten seine Kinder, nicht nur die Söhne, mit dem Vater gemeinsam, sie waren reisefreudig. Sein ältester Sohn August durchstreifte fünf Jahre lang von 1837 an die Vereinigten Staaten, Kuba und Mexiko. Der jüngste Sohn Robert reiste als junger Mann kurz nach seinem Medizinstudium in Heidelberg – dort wurde er aus der Universität relegiert, weil er sich für andere einsetzte – nach Marokko und schloss sich auf Ceylon/Sri Lanka der ersten preußischen Ostasienexpedition an. Mit ihr war er vor gut 150 Jahren zwei Jahre lang in Japan, China an der Großen Mauer, Korea und Südostasien, unmittelbar nach der Öffnung Japans zum Westen. Die Reiselust erstreckt sich auf die Frauen. Sebastians Enkelin Anna Voigt, in Erfurt geboren, bestieg 1877 als eine der ersten deutschen Frauen das Matterhorn. Eine Urenkelin bereiste um 1900 den Orient, das Nordkap, Algerien; sie studierte in Rom und in Heidelberg arabisch, syrisch, äthiopisch, persisch.

Foto: Johann-Adrian v. Lucius

Foto: Johann-Adrian v. Lucius

Die Verbundenheit zu Erfurt setzte sich bei seinen Kindern fort, auch wenn drei der vier über das Studienalter hinaus überlebenden Söhne fortzogen. Ferdinand Lucius baute die Großhandlung mit Garn und Wollwaren, die er 1862 übernahm, und die Rolle der Familie in Erfurt aus. Vor gut hundert Jahren verfügte er über ein Vermögen von acht bis neun Millionen Mark und ein Jahreseinkommen von 500 000 Mark – wie sein Vater fünfzig Jahren zuvor war er 1906 reichster Bürger Erfurts. Er engagierte sich nicht nur in der Handelskammer, sondern auch in der Stadtverwaltung und der Kultur. 27 Jahre lang, mit einer Unterbrechung von zwölf Jahren, war er Kammerpräsident über drei Kaiser hinweg. Sein Amt begann in Jahren des Norddeutschen Bundes und endete kurz vor dem Ende des Kaiserreichs. In seinem Sterbejahr 1910 wurde er Ehrenbürger Erfurts. Als Abgeordneter des Reichstages von 1890 bis 1903 und des preußischen Landtags war er Freikonservativer.

Sein älterer Bruder August hatte anfangs die Firma übernehmen sollen, fühlte sich aber stärker zur Kunst hingezogen. Er war zwar auch Kaufmann und Landwirt, und setzte sich für das katholische Vereinswesen in Erfurt ein, wurde dann aber Kunstmaler in Düsseldorf und Reichstagsabgeordneter für das katholische Zentrum.

Der Bruder Eugen studierte Chemie in Hannover, Berlin und Heidelberg sowie in Manchester. Er gründete zusammen mit seinem Schwager nahe Frankfurt die chemische Fabrik Meister Lucius & Co., aus der die Farbwerke Hoechst hervorgingen, vor drei Jahrzehnten der größte Chemiekonzern der Welt. Auch er galt nicht nur als wirtschaftlich erfolgreich, sondern auch in Frankfurt und Hoechst als Sozialreformer – er stiftete vielfach für soziale und künstlerische Zwecke. Im Reichstag saß er für die Nationalliberale Partei.

Der jüngste Bruder Robert wurde nach seinem Medizinstudium und seinen Auslandsreisen vor gut eineinhalb Jahrhunderten durch drei Kontinente Landwirt und Politiker. Er war Vizepräsident des Reichstages, elf Jahre lang preußischer Landwirtschaftsminister und Lebenszeitmitglied des Herrenhauses. 1888 wurde er vom Kaiser geadelt und in den erblichen Freiherrnstand erhoben. Robert Freiherr Lucius von Ballhausen war ein enger Vertrauter Bismarcks und als Freikonservativer dessen Bindeglied zum Parlament. Da er an Mittagessen des Reichskanzlers fast stets teilnahm, gelten seine nüchtern aufgezeichneten Bismarck-Erinnerungen als eine der wichtigsten Geschichtsquellen jener Zeit. Auch er wurde 1889 Ehrenbürger Erfurts.

In den nächsten Generationen gab es ebenso Namensträger, die sich für andere einsetzten. Dazu zählt Roberts Sohn Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten, der als Gesandter in Stockholm während des Ersten Weltkriegs und später in Den Haag als Kunstsammler und als begnadeter Netzwerker vieles bewirkte, auch im Stillen. Schweden sind ihm dankbar, dass er erfolgreich für eine schwedische Neutralität im Ersten Weltkrieg warb statt für einen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands. Und dazu zählt heute als Verleger Professor Wulf-Dietrich von Lucius, der so gut wie alle Ehrenämter innehatte oder noch hat, die es im Buch- und Verlagswesen gibt. Sein Stuttgarter Verlag Lucius & Lucius trägt den Familiennamen fort und ist dank seiner volkswirtschaftlichen Bücher und Zeitschriften in der Nationalökonomie und im Unternehmertum vielen geläufig. So bemerkenswert die Lebensgeschichten der Kinder und teils der Enkel klingen mögen – der eindrucksvollste jener Familie war, darüber sind sich Historiker einig, Sebastian Lucius, nach dem die Industrie- und Handelskammer Erfurt ihre neue Medaille benannt hat.

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Nach der Verleihung, v.l.: Dieter Bauhaus, Johann-Adrian v. Lucius, Gudrun v. Lucius, Robert v. Lucius, Karin-Herta Lützen (geb. v. Lucius), Roberta Lucius-Clarke, Gerald Grusser (Foto: privat)

Zum Autor: Robert von Lucius ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Hannover, Autor mehrerer Bücher und Mitglied der Gesellschaft Kulturerbe Thüringen e.V.

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