Luthers Schmalkaldische Artikel

von Prof. Dr. Siegfried Hermle

Die von Reformatoren unterschriebenen Schmalkaldischen Artikel von 1537

Die Schmalkaldischen Artikel sind bis heute Bekenntnisschrift der Evangelischen Kirche. Der folgende Text (die Wortfassung eines Vortrags, der am 3.9.2011 in Schmalkalden gehalten wurde) führt die Voraussetzungen vor Augen, die zum Verständnis jener Vorgänge unabdingbar waren. Dies erfolgt in drei Abschnitten: Erstens ist die Frage nach einem Konzil in der Reformationszeit zu klären, zweitens wird der Schmalkaldische Bund selbst näher zu betrachten sein und drittens wird der Bedeutung Luthers in aller Kürze nachzugehen sein. In einem zweiten Teil werden dann die unmittelbare Vorgeschichte und der Verlauf des Bundestages vom Februar 1536 vorgestellt sowie zwölf Spuren zu den Schmalkaldischen Artikel gelegt. In einem Schlussteil soll schließlich die aktuelle Bedeutung jener Vorgänge nachgegangen und gefragt werden, inwieweit diese vor ziemlich genau 475 Jahren statt habenden Ereignisse uns noch heute betreffen und Impulse geben können.

1.           Die Voraussetzungen

1.1.         Die Frage nach einem Konzil

Die Forderungen nach einem Konzil, das den Missständen in der katholischen Kirche abhelfen sollte, war im 15. Jahrhundert immer wieder erhoben worden. Das Konzil von Konstanz hatte 1414 bis 1418 immerhin in die Wege geleitet, dass das große abendländische Schisma – es gab drei miteinander konkurrierende Päpste – wieder sein Zentrum in Rom erhielt. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass bei Martin Luther das Thema Konzil erst nach der Veröffentlichung seiner Thesen gegen den Ablass 1517 breitere Bedeutung erlangte. Im Zusammenhang mit dem gegen ihn in Rom angestrengten Prozess erlangte das Konzil als Appellationsinstanz für Luther Bedeutung. Luthers Landesherrn, Friedrich den Weisen, war es gelungen, das Verhör Luthers von Rom nach Augsburg zu verlegen; dort sollte der angesehene Kardinal Thomas de Vio – Cajetan genannt – im Anschluss an den Reichstag Luther verhören. An drei Tagen, vom 12. bis 14. Oktober 1518, fanden die Gespräche im Fuggerhaus statt, doch Cajetan forderte primär einen Widerruf und drohte mit Exkommunikation. Als das Scheitern der Gespräche offenkundig wurde, appellierte Luther am 16. Oktober vor einem Notar und Zeugen, noch eher er die Reichsstadt Augsburg verließ, vom Papst an ein allgemeines Konzil. Luther rief demnach gegen einen Beschluss des Papstes ein als überparteilich angesehenes Konzil an, das den Streit schlichten sollte. In der Begründung für diesen Schritt machte Luther geltend, dass das Appellationsverbot des Papstes illegitim sei; das Konzil repräsentiere die Katholische Kirche, daher stehe es über dem Papst. Dies gelte umso mehr, da der Papst irren könne. Luther ließ eine Urkunde drucken, um sie beim Eintreffen einer Bannbulle veröffentlichen zu können; doch der geschäftstüchtige Drucker verkaufte sie umgehend, was Luther sehr verärgerte.

Damit aber war das Thema „Konzil“ für Luther nicht abgeschlossen: 1519 entlockte ihm sein Widersacher Johannes Eck auf der Leipziger Disputation die Aussage, nicht nur der Papst, auch Konzilien könnten irren – wobei Luther auf die Verurteilung von Jan Hus in Konstanz verwies. Einige in Konstanz verurteilte Sätze von Hus seien als „ganz christliche und evangelische“ anzusehen. Luthers nächste, in einer breiten Öffentlichkeit rezipierte Äußerung zu einem Konzil findet sich in der Adelsschrift von 1520. Hier legte er dar, dass die Überordnung des Papstes über ein Konzil ebenso anmaßend sei, wie die Forderung, der Papst allein könne ein Konzil einberufen. Luther widersprach: Die Einberufung eines Konzils könne auch von der weltlichen Obrigkeit veranlasst werden, falls die kirchliche sich verweigere. Luther erhoffte sich von einem freien christlichen Konzil eine Generalreform der Kirche; neben zahlreichen Missständen sollte auch die Frage des Laienkelches oder des Zölibats geklärt und dem Evangelium gemäße Neuordnungen veranlassen werden.

Nachdem Luther im Oktober 1520 über die Verbreitung der Bannandrohungsbulle unterrichtet und diese ihm am 10.Oktober auch förmlich in Wittenberg ausgehändigt worden war, nahm er nicht nur äußerst polemisch dagegen Stellung und verbrannte die Bulle vor dem Elstertor, er erneuerte förmlich die vor zwei Jahren ausgesprochene Appellation an „ein christlich frei Concilium“.

In den folgenden Jahren wurde die Frage nach einem Konzil politisiert. So wurde auf dem 3. Nürnberger Reichstag von 1524 angesichts der Schwierigkeiten, ein Universalkonzil durchzusetzen, von den Altgläubigen und lutherischen Ständen die Abhaltung eines deutschen Nationalkonzils in Aussicht genommen. Allerdings untersagte Kaiser Karl V. unter Androhung der Reichsacht das intendierte Nationalkonzil und verbot zugleich jedes von den Reichsständen angeregte Konzil sowie jede Disputation über den Glauben. Erst mit dem Speyerer Reichstag von 1529 nahm die Konzilsfrage wieder Fahrt auf. Allerdings war ein gemeinsames Vorgehen der Altgläubigen und lutherischen Stände nun nicht mehr möglich. Zwar forderten die Altgläubigen ein christliches Generalkonzil in einer deutschen Stadt, doch sollte dies vornehmlich die Aufgabe haben, die protestantische Ketzerei einzudämmen. Die evangelischen Stände hingegen, die 1529 gegen die Restitution des Wormser Edikts protestiert hatten, forderten ein „frei christlich gemein concilium und versamblung der heiligen christenhait“, die als unparteiischer Richter fungieren sollte.

Eher unerwartet schien nach einer Zusammenkunft von Kaiser Karl und Papst Clemens VII. im Winter 1532/33 in Bologna die Einberufung eines Konzils tatsächlich möglich. Die nach Deutschland entsandten Emissäre wurden auch in Wittenberg vorstellig. Luther arbeitete zwei Voten aus, in denen er radikal ein unter der Obrigkeit der Päpste stehendes Konzil ablehnte, da ein solches gegen das Wort Gottes stehe. Auf Initiative Philipp Melanchthons hin wurde die päpstliche Initiative jedoch akzeptiert, bei gleichzeitigem Protest gegen die päpstliche Oberhoheit. Er könne nicht über einem Konzil stehen, da, so hatte Luther in seinem Votum herausgearbeitet, der Papst nicht zugleich Partei und Richter sein können. Allerdings scheiterte diese Initiative von Papst Clemens weniger an den protestantischen Einsprüchen, als „an der Uneinigkeit der Anhänger Roms und am französischen König Franz I.“.

Die protestantischen Theologen behielten diese Linie – Kritik einerseits und Bereitschaftserklärung zur Teilnahme andererseits – in den folgenden Jahren bei; die protestantischen Obrigkeiten jedoch, zumindest die im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen, waren eher geneigt, ein Konzil unter päpstlicher Oberhoheit generell abzulehnen.

1.2.         Der Schmalkaldische Bund

Nach dem Augsburger Reichstag von 1530 schlossen sich Ende Dezember 1530 protestantische Fürsten und Städte zusammen, um ihren Glauben zu verteidigen. Dieser Schritt erschien notwendig, da zu befürchten war, dass der Kaiser eine Exekution wegen Landfriedensbruch durchführen könnte, um die evangelischen Stände zum alten Glauben zurückzuzwingen. Die Gründungsmitglieder versicherten sich gegenseitige Unterstützung, falls „gegen das Wort Gottes ‚mit gewalt und der tat‘ vorgegangen“ würde. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten fünf mitteldeutsche Fürsten: Kursachsen und Hessen als Bundeshauptleute, weiter Braunschweig-Lüneburg, Braunschweig-Grubenhagen und Anhalt-Bernburg, ferner die beiden Grafen von Mansfeld sowie elf Städte: darunter Straßburg, Ulm, Memmingen, Reutlingen, Konstanz, Biberach und Magdeburg. Bis 1538 konnte sich der Bund stetig vergrößern. Nur einige der neuen Mitglieder seien genannt: Braunschweig, Göttingen, Esslingen, Frankfurt, Augsburg, Hamburg oder Kempten sowie als wichtigstes neues Territorium Württemberg, das 1536 mit Hilfe Philipp von Hessens den Habsburgern entrissen und reformiert worden war, dazu Anhalt-Dessau und Pommern. Bis zur Auflösung des Bundes 1547 wurde danach nur noch Hildesheim aufgenommen.

Diese Aufzählung zeigt die beiden Schwerpunkte des Bundes: Zum einen ergab sich ein niedersächsisch-mitteldeutscher Block – der niederdeutsche Kreis –, zum anderen waren zahlreiche süddeutsche Reichsstädte sowie das Herzogtum Württemberg im Schmalkaldischen Bund vereint – der oberdeutsche Kreis. Jedes Mitglied hatte einen jährlichen Obolus an die Bundeskasse zu entrichten, um Mittel für einen Konfliktfall bereitzuhalten. Oberstes Ziel des Zusammenschlusses war die Behauptung des evangelischen Glaubens. Alle anstehenden Fragen wurden auf Bundestagen beschlossen; insgesamt gab es mehr als 30 Zusammenkünfte, die sich immerhin sieben Mal hier in Schmalkalden zusammenfanden.

Mit den beiden regionalen Schwerpunkten ergaben sich freilich auch theologische Probleme. Diese waren auf dem Reichstag von Augsburg 1530 dadurch augenscheinlich geworden, dass einige der späteren Bundesmitglieder die Confessio Augustana, andere aber ein eigenes Bekenntnis, die Confessio Tetrapolitana, vorgelegt hatten (Straßburg, Memmingen, Konstanz, Lindau). Der entscheidende Differenzpunkt lag im Verständnis des Abendmahls. Viele der süddeutschen Reichsstädte folgten in ihrer Abendmahlslehre der von Zwingli vertretenen Sicht, derzufolge – verkürzt ausgedrückt – die versammelte Gemeinde ein Gedächtnismahl feierte, bei dem Christus im Abendmahl spirituell präsent ist. Luther hingegen lehrte, Christus sei in den Elementen von Brot und Wein im Moment des Genusses real anwesend. Diese Differenz war in Marburg 1529 offenkundig geworden. Nach der Gründung des Bundes suchten dessen Mitglieder unter maßgeblicher Mitwirkung von Martin Butzer einen Ausgleich in dieser Frage. Nach harten Verhandlungen legten die Theologen 1536 eine Übereinkunft vor: In der sogenannten Wittenberger Concordie wurde eine von Butzer vorgeschlagene Verständigungsformel festgeschrieben, derzufolge im Abendmahl „Leib und Blut Christi ‚mit dem brot und wein‘ (cum pane et vino) ‚warhafftig und wesentlich zu gegen sey[en] und dargereicht und empfangen werden‘.“ Die Anwesenheit Christi in den Elementen sei dabei weder von der Würdigkeit des Spenders noch des Empfängers abhängig, d.h., auch Unwürdige nehmen den Leib Christi zu sich – freilich nicht zu ihrem Heil, sondern zum Gericht.

Ein letztes zum Schmalkaldischen Bund: Signifikant war für diesen Zusammenschluss die „enge Abstimmung zwischen Theologen, Juristen und fürstlichen oder städtischen Politikern“. Dieses Zusammenwirken wurde geradezu zu einem „Strukturelement der reformatorischen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse.“ Es war in diesem Bund also wichtig und zentral, dass nicht die Politiker für sich – allein nach politischen Maßstäben – zu Entscheidungen gelangten, sondern ihre Überlegungen und Beschlüsse stets mit den Theologen abstimmten. Politik ohne Theologie und Theologie ohne Politik war nicht vorstellbar.

1.3.         Die Bedeutung Luthers

Es ist hier nicht der Ort, Luthers Biografie vorzuführen. Ich möchte lediglich zwei Punkte herausstellen, die für den Schmalkaldener Bundestag von 1537 von Bedeutung waren.

Zum einen ist die enge Bindung Luthers an den jeweiligen Landesherrn herauszustellen. Zunächst war es der sächsische Kurfürst Friedrich, der seine Hand über den Professor „seiner“ Universität Wittenberg hielt. Friedrich sorgte für die Verlegung des im Rahmen des Prozesses gegen Luther anstehenden Verhörs von Rom nach Augsburg und auch nach der Verhängung der Reichsacht auf dem Wormser Reichstag 1521 schützte er Luther. Er ließ ihn auf die Wartburg „entführen“, wo Luther inkognito als Junker Jörg lebte und wichtige Schriften verfasste – darunter die Übersetzung des Neuen Testaments.

Nach dem Tod Friedrichs 1525 war es dessen Bruder Johann, der Beständige genannt, der treu auf der Seite des Reformators stand und in seinem Territorium durch Visitationen die Lehre Luthers durchsetzte. Ihn verband eine nahezu freundschaftliche Beziehung zu Luther. Als Johanns Sohn Johann Friedrich 1532 die Regierung übernahm, erwies auch er sich als entschiedener Förderer der Reformation. Er wollte unter allen Umständen das Erbe Luthers bewahren – hierauf wird noch näher einzugehen sein.

Das zweite, das hier im Blick auf Luther anzusprechen ist, betrifft dessen Gesundheitszustand. Von Krankheiten Luthers wird immer wieder berichtet: Beispielsweise fesselte ihn 1526 „ein Brausen im Ohr wie Wellen im Meer“ ans Bett und am 5. Februar 1533 erlitt Luther einen Schwächeanfall, der ihn um sein Leben fürchten ließ. Für Luther war es im Übrigen unzweifelhaft, dass der Teufel hinter diesen Attacken stecke, er wollte ihn anfechten und von der Wahrheit abbringen. Wegen Schwindel und Ohrensausen konnte er im Folgenden oft nicht arbeiten. Durch Schmerzen in den Zehen kündigte sich im Herbst 1533 Symptome des Harnsteinleidens an, das ihn immer stärker belastete. Die angeschlagene Gesundheit Luthers zeigte sich in den folgenden Monaten in offenen Geschwüren am Unterschenkel, ihn plagten Durchfall und Erkrankungen und Anfang 1536 zwangen ihn Ischias-Schmerzen ins Bett. Noch zwei weitere gesundheitliche Attacken quälten Luther 1536, so dass er die Nähe des Todes zu spüren meinte: Vor Ostern wurde er massiv von einem Harnsteinleiden gequält, und erst der schmerzhafte Abgang von kleinen Steinen in Grießform im Juni brachte Erleichterung. Am 19. Dezember erlitt er „einen schweren Herzanfall, der das Schlimmste befürchten ließ“. Auch während der Bundestagung in Schmalkalden Anfang 1537 – auf die nun im Folgenden einzugehen sein wird – war Luther durch sein Harnsteinleiden schwer mitgenommen; vorübergehende Linderung schaffte am 8. Februar der Abgang eines Steines – doch sollte dies nur eine vorübergehende Besserung nach sich ziehen.

2.  Der Bundestag in Schmalkalden 1537 und die Schmalkaldischen Artikel

2.1.         Die Konzilsinitiative von Papst Paul III.

Die so lange geforderte Einberufung eines Konzils schien Mitte der 1530er Jahre plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Der seit 1534 amtierende Papst Paul III. signalisierte, dass er bereit sei, ein Konzil einzuberufen. Bereits Anfang 1535 wurden Gesandtschaften nach Spanien, Frankreich und Deutschland entsandt, um die Fürsten von den päpstlichen Plänen zu unterrichten. Pietro Paolo Vergerio, Nuntius am Hof König Ferdinands, sollte die Gespräche in Deutschland führen. Am 6. November 1535 traf er in Wittenberg ein und einen Tag später fand eine Unterredung des päpstlichen Abgesandten mit Luther statt. Berichtet wird, dass sich Luther hierfür den Bart scheren ließ und eigens seine beste Kleidung anlegte – er wollte jugendlich und agil erscheinen. Die Gesprächsatmosphäre war wohl angespannt, nach verschiedenen anderen Themen wandte man sich dem Bereich Konzil zu. Luther machte hierzu deutlich, dass die Evangelischen ein solches nicht nötig hätten, sondern nur die vom Papst verführten Menschen. Vergerio hingegen gab sich überzeugt, dass ein im Heiligen Geist versammeltes Konzil Luther verurteilen würde. Luther sagte schließlich Vergerio die Teilnahme – unabhängig vom Ort der Zusammenkunft – zu: er werde erscheinen. Vergerio gab im Übrigen 1549 sein Amt als Bischof von Capodistria auf und wandte sich der Reformation zu!

Nach einem Gespräch, das Vergerio mit Kurfürst Johann Friedrich in Prag am 30. November geführt hatte, begrüßte am 21. Dezember 1535 auch der Schmalkaldische Bund das Konzil, widersprach jedoch dem vorgesehenen Tagungsort Mantua, da Reichstage gefordert hatten, das Konzil müsse auf deutschem Boden stattfinden.

Am 2. Juni 1536 schrieb Papst Paul III. dann tatsächlich ein Konzil aus: Es sollte am 23. Mai 1537 in Mantua beginnen.

2.2.         Die Vorbereitungen für den Bundestag

Bereits am 24. Juli 1536 forderte Kurfürst Johann Friedrich durch seinen Kanzler Gregor Brück die Theologen und Juristen der Wittenberger Universität zu einer Stellungnahme zum Konzil auf. Zwei Tage später formulierte er selbst ein Bedenken, in dem er festhielt, dass die Einladung zu einem Konzil nicht angenommen werden sollte; ja, er wollte nicht einmal die päpstlichen Legaten mit dem Einladungsschreiben empfangen. Er wollte die im Anschreiben offenkundig werdende Anmaßung und Hoheit des Papstes nicht akzeptieren, da diese „wider Gott wäre“, das Konzil sei also „unchristlich, ungöttlich, auch wider Recht und Billigkeit“. Er erwog, ob nicht ein Gegenkonzil abgehalten werden sollte, das „ein gemein, frei, christlich Concilium“ sein sollte, „das in deutscher Nation zu halten“ sei.

Die Wittenberger Theologen und Juristen jedoch waren anderer Ansicht: Sie rieten – in Unkenntnis des Bedenkens ihres Landesherrn – in ihrem Votum vom 6. August das Konzil zu beschicken. Da man sich immer auf ein Konzil berufen habe, könne man jetzt nicht fernbleiben, jedoch wolle man den Papst nicht als Richter anerkennen, sondern das freie Konzil selbst.

Angesichts seines eigenen Bedenkens überrascht es nicht, dass Kurfürst Johann Friedrich das Gutachten zurückwies und die Theologen aufforderte ohne die Juristen ein neues Gutachten zu erstellen. Zugleich ließ der Kurfürst Luther durch Brück mitteilen, er wünsche von ihm ein Testament „der Religion halben“. Wohl angesichts des oben dargestellten labilen Gesundheitszustandes von Luther erbat sich der Kurfürst eine authentische Formulierung der Theologie Luthers. Bereits am 3. September teilte Brück dem Kurfürsten mit, Luther „sey schon in guther arbeidt“. Hier haben wir eine erste Spur der späteren Schmalkaldischen Artikel.

Philipp Melanchthon - Gemälde von Lucas Cranach dem Jüngeren von 1559

Während Luther also offensichtlich recht zügig mit der Ausarbeitung des erbetenen theologischen Testaments begann, blieb der Auftrag für das zweite Gutachten der Theologen zunächst liegen, da Philipp Melanchthon Anfang September nach Süddeutschland abreiste und erst Anfang November zurückkehrte. In dieser Pause erreichte den Kurfürsten nun zwei Gutachten hessischer Theologen, die vom Besuch des Konzils abrieten, da es den Forderungen der Protestanten nicht entspreche; zudem schlugen „beide Bedenken die Abfassung eines gemeinsamen Bekenntnisses“ vor. Diese Gutachten mochten für Kurfürst Johann Friedrich der Anlass gewesen sein, seinerseits einen „Gedenkzettel“ zu verfassen, in dem er sich erneut gegen die Konzilsteilnahme aussprach und ein Gegenkonzil, das eventuell in Augsburg stattfinden sollte, erwog. Zugleich aber forderte er in diesem „Gedenkzettel“ nun Luther auf, „sein grundt vnd meynung mit gotlicher schriefft“ darzulegen und insbesondere jene Artikel zu benennen, bei denen er in einem Konzil „gedenkt zuberuhen vnd zupleiben“, bei denen man also „nit zuweichen“ dürfe. Zudem sollte Luther auch jene Artikel benennen, in denen „vmb Christlicher lieb willen, […] etwas konte ader mochte nachgegeben werden“. Luther wurde ferner angewiesen, diesen Text mit anderen Theologen zu beraten und ihn bis spätestens am 25. Januar 1537 dem Kurfürsten zukommen zu lassen.

Diese zweite Spur zeigt eine deutlich veränderte Aufgabenstellung: Der Kurfürst forderte also nun nicht länger ein allgemeines Bekenntnis, das als Luthers Testament angesehen werden konnte, sondern er wünschte angesichts des ausgeschriebenen Konzils eine Zuspitzung der Aussagen auf die Frage, wo man unumstößlich festbleiben müsse, und wo Spielräume für Kompromisse gegeben waren. Auch dass er Beratungen über diesen Text durch andere Theologen wünschte, zeigt die gegenüber der Anweisung vom August veränderte Zielrichtung.

Am 15. Dezember lud Luther einige ihm vertraute Theologen auf den 28. Dezember zu einer Aussprache über seine Artikel nach Wittenberg ein. Allein: die von ihm energisch vorangetriebene Arbeit an den Artikeln wurde am 18. Dezember jäh unterbrochen. Ein schwerer Herzanfall machte jede Weiterarbeit unmöglich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Luther sehr ausführlich mit zahlreichen Schriftbelegen seine Sicht der Rechtfertigungslehre, der päpstlichen Messe, des Mönchtums, der Sünde oder der Buße – um nur einige zu nennen – dargelegt. Nachdem er wieder etwas genesen war, diktierte er die weiteren Artikel, die daher deutlich kürzer ausfallen. Die Besprechung am 28. Dezember brachte noch eine Änderung: Ein Artikel „Vom Heiligen anruffenn“ wurde noch eingefügt. Acht Theologen unterschrieben schließlich den Text, wobei Melanchthon die Einschränkung hinzufügte: Er halte vom Papst, „so ehr das Euangelium wolte zulassen, das yhm vmb fridens vnd gemeiner Einikeit willen […], sein Superioritet vber die Bischoue, die ehr hatt iure humano, auch von vns zuzulassen <und zugeben> sey“.

Luther übersandte – und hier haben wir die dritte Spur – schließlich am 3. Januar 1537 die Artikel samt Unterschriften an Kurfürst Johann Friedrich, der ihm bereits am 7. Januar überschwänglich dankte: Er sage „got dem almechtygen vatter vnd vnsserm hern christo danck, das er euch gesuntheyt vnd stercke ferligen, sulche artyckel so christlichen, reyn vnd lautter zu fertygen“.

Parallel zu diesen Vorgängen waren Luther, Justus Jonas, Philipp Melanchthon und einige weitere Theologen dem Auftrag für ein zweites Gutachten endlich nachgekommen. Allerdings kamen sie zu keinem anderen Ergebnis wie vier Monate zuvor: Sie rieten nicht nur zur Teilnahme an dem anstehenden Konzil, sie lehnten auch einmütig ein Gegenkonzil ab, da dieses „einen großen schrecklichen Schein [habe,] ein Schisma anzurichten“.

Nach einem Treffen zwischen den Hauptleuten des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp von Hessen, am 21. Dezember in Eisenach erging am 24. ein Einladungsschreiben an alle Mitglieder des Bundes. Am 2. Februar sollte in Schmalkalden ein Bundestag eröffnet werden, der sich primär mit dem Thema Konzil beschäftigen sollte.

2.3.         Die Verhandlungen in Schmalkalden

Anfang Februar 1537 machten sich Delegierte aus 18 Territorien und Städten auf den Weg nach Schmalkalden; begleitet von Melanchthon und Johannes Bugenhagen reiste Luther über Weimar, wo er am 4. Februar predigte, zum Tagungsort. Am 7. Februar trafen sie in Schmalkalden ein, drei Tage später kamen die Bundeshauptleute Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen an. Auf dem Bundestag anwesend waren neben den Obrigkeiten über 30 Theologen, unter anderen Eberhard Schnepf für Württemberg, Ambrosius Blarer für Württemberg, Konstanz und Lindau, Veit Dietrich und Lukas Osiander für Nürnberg und Martin Butzer für Straßburg.

Am 10. Februar wurde der Bundestag mittags um 12 Uhr feierlich eröffnet. Dr. Gregor Brück, der sächsische Kanzler, legte in seinem Eingangsvotum dar, dass das angekündigte Konzil in den Augen der Fürsten „kein recht concilium“ sei. Die Theologen sollten „die zu Augspurg vbergebne Confession sampt der Appologj fur sich nemmen vnd daruon reden, Ob gott gnad verlichen wurde, das verhoffenlich etwas guts vnd fruchtpars vff dem Concilio mochte gehandelt vnd der gegenthail dahin zupringen sein, das sy gottes wort by inen offentlich vnd vnuerhindert predigen vnd darnach leben liessen“. Entscheidend an diesen Ausführungen ist, dass Brück nicht Luthers Artikel, sondern die Confessio Augustana und die Apologie als Grundlage der Beratungen herausstelle. Zu diesem Zeitpunkt war allenfalls die Existenz eines Textes von Luther allgemein bekannt, nicht aber dessen Inhalt – diese 4. Spur ist demnach ehe als „Nicht-Spur“ anzusehen.

Dies zeigt eindrücklich ein Bericht über ein Zusammentreffen Melanchthons mit Philipp von Hessen am Abend des 10. Februar, das uns die fünfte Spur legt. Melanchthon informierte den Landgrafen über Luthers Artikel und wies darauf hin, dass sie eine gegenüber der Wittenberger Konkordie verschärfte Fassung des Abendmahlsartikels enthalte; diese sei „etwas heftig gestalt“. Die von Luther gewählte Formulierung könne, so Melanchthon, zu Schwierigkeiten mit den Oberdeutschen führen.

Die Delegierten der Oberdeutschen waren mit dem festen Vorsatz nach Schmalkalden gereist, kein neues Bekenntnis zu verabschieden. Daher hatten sich die Städtevertreter in einer separaten Beratung am 11. Februar morgens auch darauf verständigt, keine theologischen Fragen zu diskutieren. Allerdings war diese Position nicht zu halten. Die Fürsten beharrten in einer am Nachmittag angesetzten Versammlung auf eben solchen Beratungen. Man kam schließlich überein, dass die anwesenden Theologen die Confessio Augustana und die Apologie „mit satten und unwidersprechlichem grund der hailigen gottlichen gschrifft (och der vetter und alter concilien decreten) bevestnen und dieselbigen spruch der gschrift zusammen tragen“ sollten, damit man für ein Konzil gewappnet wäre.

Die Theologen trafen sich daraufhin am 12. Februar zu einer ersten Sitzung, um dem erteilten Auftrag nachzukommen; Melanchthon schlug vor, einem Ausschuss die Erarbeitung eines entsprechenden Papiers zu übertragen, das dann wiederum von allen diskutiert werden sollte. Dieser Ausschuss traf sich noch am selben Tag. Da Luther gesundheitlich angeschlagen war, versammelte man sich in dessen Quartier. Auch Luther machte deutlich, dass die Basis der Beratungen die Confessio Augustana sei – seinen Text erwähnte er nicht einmal, womit diese sechste Spur ins Leere führt! Der Austausch schritt gut voran, noch beim ersten Treffen wurden die Artikel 1 bis 9 der Confessio durchgesprochen. Zudem verständigte man sich auf die Einsetzung eines fünfköpfigen Unterausschusses, der die Frage der „gewalt des bapsts“ näher erörtern sollte, da diese im Augsburgischen Bekenntnis nicht thematisiert war.  Allerdings verfasste Melanchthon dann allein einen Traktat über die Gewalt des Papstes.

Am 17. Februar fand die zweite Sitzung aller Theologen statt, die unter anderem den Text Melanchthons über das Papsttum diskutierte; zugleich erhielten die Theologen nun auch Kenntnis von Luthers Artikeln; sie wurden ihnen zur Abschrift vorgelegt. Erst zu diesem relativ späten Zeitpunkt – und hier haben wir die siebte Spur – wurde demnach der Text Luthers allgemein bekannt – nicht als Diskussionsgrundlage, wohl aber als Impuls für die laufenden Beratungen. Denn mit der Weigerung der Städte, irgendwelche neuen Lehrartikel zu beraten, war offensichtlich, dass Luthers Text nicht mehr „als mögliche Bekenntnisurkunde […] durchsetzbar“ war, wie es Johann Friedrich vielleicht geplant haben mochte.

Während dieser Beratungen der Theologen waren auf Seiten der Delegierten wichtige Vorentscheidungen gefallen: Am Nachmittag des 15. Februar hatte der kaiserliche Gesandte Matthias Held für eine Beschickung des Konzils geworben. Doch die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes verständigten sich rasch auf eine Ablehnung: „die stendt [seien, so hieß es im Entwurf eines Antwortschreibens,] den merern tail ainig, das sollich parteisch concilion nicht zu besuchen“ sei. Da diese Entscheidung, die Held am 24. eröffnet wurde, weitreichende Folgen haben konnte, unterrichteten die Delegierten ihre Obrigkeiten, sie möchten „ir kriegsvolck […] mit nichten [fremden Herrschern, beispielsweise dem Kaiser] zulaufen lassen, sondern die anhaim behalten“. Bereits am 16. Februar war also eine Vorentscheidung gefallen, die auch Auswirkung auf die Theologen hatte. Deren Arbeit war nun bei weiten nicht mehr so dringlich, wie sie es bei einem Konzilsbesuch gewesen wäre. Entscheidend war nunmehr, diese Ablehnung der Teilnahme zu begründen, und nicht länger Überlegungen, wie man auf einem Konzil die eigene Theologie vertreten sollte.

Trotz dieser Entwicklung trafen sich die Theologen am 23. Februar erneut. Sie wurden vormittags offiziell von der Ablehnung der Konzilsbeschickung unterrichtet und ihnen blieb keine andere Wahl als diese Entscheidung zu akzeptieren, obwohl sie mehrheitlich für eine Teilnahme am Konzil waren. Am Nachmittag berieten sie – obwohl Luther nicht teilnehmen konnte wie es vor allem Melanchthon gewünscht hatte – die übrigen Artikel des Augsburger Bekenntnisse sowie insbesondere – jetzt auch unter Hinzuziehung von Luthers Text, die achte Spur, – Artikel 10 „Vom heiligen Abendmahl“. Dabei kam es zwischen Butzer und Osiander zu einem so heftigen Disput, dass Osiander Butzer am folgenden Tag um Verzeihung bat. Auch Ambrosius Blarer äußerte sich kritisch zu Luther Fassung. In diesem Zusammenhang tauchte dann der Vorschlag auf, dass die Theologen ihre Zustimmung zu Luthers Artikel durch ihre Unterschrift bekunden sollten. Am darauffolgenden Tag kamen man überein, da Luther „seine artikel fur sein eigen person gestelt, wolt man niemandts dringen, die selben zu under­schrei­ben, sonder zu jedes freien willen haimstell[en]“. Schließlich unterzeichneten 25 Theologen Luthers Artikel und bekundeten damit ihre persönliche Übereinstimmung mit diesem Text – und legen uns die neunte Spur. Im Gegensatz hierzu unterschrieben alle anwesenden 33 Theolo­gen Melanchthons „Tractatus de potestate et primatu papae“ (Blarer unterzeichnete am 26.2. noch nachträglich ) sowie die Confessio Augustana.

Lutherhaus Schmalkalden - Herberge des Reformators

Dass Luthers Artikel eher eine Nebensolle spielten, lag auch an dessen Gesundheitszu­stand. Ein Harnsteinleiden plagte ihn so sehr, dass er nur sporadisch an den Beratungen teilnehmen konnte. Bereits am 8. Februar war ein Stein abgegangen und ab dem 19. Februar konnte er keinen Harn mehr lassen. Als sein Zustand ab 25. Februar zunehmend kritisch wurde, fürchtete Luther, bald sterben zu müssen. Er machte sich daher am folgenden Tag auf dem Rückweg nach Wittenberg. Dies rettete ihm wohl das Leben: Die Erschütterungen auf den schlecht ausgebauten Straßen lösten einen Stein, so dass er in seinem ersten Nachtquartier in Tambach endlich wieder Harn lassen konnte. Am 27. Februar erreichte Luther dann immer noch schwer krank Gotha; erst als am 1. März abends sechs Steine – „einer davon bohnengroß“ – abgingen, stellte sich langsame Besserung ein.

Der offizielle Abschied der Bundesversammlung trägt das Datum des 6. März und stellte unter anderem heraus, die Theologen seien durch Gottes Gnade „einhellig­lichen mit ainander vbereinkommen in allen punkten vnd Artikeln, inmaßen vnser confession vnd Apologia“, zudem wurde Melanchthons Traktat über den Papst als Bekenntnisschrift ausdrücklich als Ergänzung der Confessio Augustana aufgeführt.

2.4           Die Absage des Konzils

Die Absage der Protestanten war sicher nicht dafür ausschlaggebend, dass das Konzil letztlich nicht stattfand. War es aufgrund von Differenzen zwischen Papst Paul III. und Herzog Federigo Gonzaga von Mantua am 20. April 1537 noch verschoben worden, so verfügte die Bulle „Romanus Pontifex“ vom 25. April 1538 eine Vertagung auf unbestimmte Zeit. Erst sieben Jahr später, am 13. De­zember 1545, wurde schließlich das lange erwartete und erhoffte Konzil in Trient eröffnet.

3.         Die Schmalkaldischen Artikel – Bedeutung für heute?

Luthers Artikel, die allgemein unter der Bezeichnung „Schmalkaldische Artikel“ bekannt sind, wurden durch den Bundestag also weder ausführlich beraten noch als Bundesbekenntnis approbiert. Die zehnte Spur führt zum ersten Druck der Artikel: Luther sah sie als eine Privatarbeit Luthers an und brachte sie im Juni 1538 zum Druck. In seiner Vorrede gab er fälschlicherweise an, dass diese „auch von den vnsern angnomen vnd eintrechtiglich bekennet vnd beschlossen“ wurden, damit man sie bei einem Konzil gegebenenfalls „offentlich vberantworten vnd (als) vnsers glaubens bekenntnis fu(e)rbringen“ könne. Weitere Drucke und insbesondere die Hochschätzung, die die Artikel bei Kurfürst Johann Friedrich fanden, trugen zu deren Verbreitung bei. Da sie als „bündige und letztgültige Formulierung lutherischer Lehre“ ange­se­hen wurden, fanden sie zunehmende Akzeptanz: In Halle wurden sie – Spur 11 – 1541 Teil der von Justus Jonas verfassten Kirchenordnung und auch die Kirchenordnungen von Magdeburg (1552) oder von Pfalz-Zweibrücken (1557) zählten sie zu den Bekennt­nisschriften (1560 befahl der Hamburger Rat, dass die Prediger der Stadt unter anderem auch in Übereinstimmung mit den Schmalkaldischen Artikeln zu lehren hätten. Auf einem Konvent niedersächsischer Städte, der 1561 in Lüneburg stattfand, wurden die Artikel in das Corpus Doctrinae aufgenommen und im Folgenden finden sie sich in zahlreichen weiteren Kirchenordnungen). Endgültig in den Rang einer allgemein anerkannten Bekenntnisgrundlage stiegen die Artikel 1580 auf, als sie Aufnahme in das lutherische Konkordienbuch fanden und daher noch bis heute zur Glaubensgrundlage lutherischer Kirchen weltweit gehören.

Heute scheinen Luthers Artikel kaum mehr von Bedeutung zu sein; ich wage fast zu behaupten, selbst viele Theologinnen und Theologen kennen diesen Text kaum. Dies hängt sicher damit zusammen, dass Luther in diesen Artikeln ganz pointiert seine Sicht in scharfer Abgrenzung zur römischen Kirche darstellte – dies scheint heute nicht mehr opportun. Heute setzt man nicht auf Abgrenzung, sondern auf Gemeinschaft, Zusammenarbeit:

  • da wurden in den 1960er Jahre von evangelischen und katholi­schen Gemeinden gemeinsam genutzte Zentren gebaut,
  • da wurden 1968 die Texte des Vater-Unser und 1971 des Glaubensbekenntnisses angeglichen,
  • eine gemeinsame Erklärung hat 1999 sogar Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre festgehalten,
  • EKD und Katholische Bischofskonferenz erlassen gemeinsame Denkschriften beispielsweise 2003 zu „Sterbebegleitung und Sterbehilfe“,
  • da gibt es Gemeindepart­nerschaften zwischen evangelischen und katholischen Gemeinden,
  • ja selbst eine gemeinsame Einladung der Rheinischen Kirche und der Diözese Trier zur Heilig Rock Wallfahrt nach Trier 2012 ist heute möglich.

Ist diese Entwicklung zu beklagen? Sicher nicht! Die Zusammenarbeit der christlichen Kirchen ist in einer Zeit der weit fortgeschrittenen Säkularisierung unzweifelhaft notwendig und geboten.

Aber darf man darüber seine eigenen Traditionen außer Acht lassen?

Ich denke, die Entstehungsgeschichte der Schmalkaldischen Artikel kann uns daran erinnern, dass man die eigenen Traditionen kennen sollte. Nur eine eigene klare Position eröffnet nämlich die Möglichkeit, sich dem Anderen zuzuwenden; nur so können ehrliche und tragbare Kompromisse gefunden werden, in denen sich beide wiederfinden können.

Als erste Folgerung aus den Ereignissen in Schmalkalden würde ich festhalten, dass es unabdingbar ist, ein solides Wissen über den Glauben zu vermitteln. Hierbei hat das Elternhaus, aber auch der Konfirmandenunterricht oder der Religionsunterricht eine besondere Aufgabe. So wichtig das gesellschaftliche Miteinander, so entschieden heute vielfach das Erleben von Gemeinschaft oder die Ausbildung eines sozialen Gewissens sein mag, die Vermittlung elementaren Sachwissens darf darüber nicht zu kurz kommen.

Ein zweiter Bereich, betrifft das innerprotestantische Miteinander. In Schmalkalden konnte dies seinerzeit zwischen nieder- und oberdeutschen Theologen – wenn auch mit großen Spannungen – Aufrecht erhalten werden. Dennoch machten die theologischen Differenzen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein beispielsweise einen gemeinsamen Abendmahlsgottesdienst von Lutheranern und Reformierten kaum möglich. Diese Trennung ist heute überwunden. Durch die 1973 verabschiedete Leuenberger Konkordie wurde ein grundsätzlicher Konsens bei Fortbestehen des Dissenses zwischen den lutherischen und reformierten Kirchen festgehalten. Die Differenzen des 16. Jahrhunderts sind zwar nicht ausgeräumt, doch sie sind nicht kirchentrennend: Lutheraner und Reformierte können gemeinsam Abendmahl feiern oder erkennen gegenseitig die Ordination an.

Auch mit der römisch-katholischen Kirche – und das wäre der dritte Bereich, den ich ansprechen möchte – gab und gibt es verheißungsvolle Ansätze für eine theologisch verantwortbare Verständigung, doch zugleich ergeben sich immer wieder zum Teil gravierende Dissonanzen und Irritationen (vgl. Dominus Jesus von 2000: die protestantischen Kirchen werden „nur“ als „kirchliche Gemeinschaften“ und nicht als Kirchen angesehen).

Derzeit diskutiert man in der Öffentlichkeit, ob und ggf. inwieweit die Römisch-katholische Kirche am Reformationsjubiläum 2017 beteiligt werden kann.

Soll und kann man also Luthers Thesenanschlag ökumenisch begehen?

Weshalb eigentlich nicht – möchte ich zurückfragen, um freilich sogleich ein „Aber“ anzufügen. Ein Beteiligung der Katholiken kann natürlich nicht dazu führen, dass einzelne Punkte, die die Kirchen bis heute trennen, nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand angesprochen werden.

Der Thesenanschlag 1517 galt dem Ablass – gut, dieses Thema mag heute nicht mehr im Zentrum des Interesses stehen, aber Fakt ist, dass der Ablass in der katholischen Kirche immer noch geltende Lehre ist. Während dieser Punkt vielleicht zurücktreten kann, darf dies ein anderer keinesfalls: das Amts- und damit auch das Kirchenverständnis sind die Hürden, die momentan nicht bewältigbar erscheinen. Luther hatte in den Schmalkaldischen Artikeln formuliert: „Denn es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ‚die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‘“ und, so betont Luther, eben nicht „Chorhembden, Platten, langen Rocken und andern ihren Zeremonien“.

Ganz abgesehen davon, dass heute wohl kaum mehr ein Kind von sieben Jahren, weiß, was die Kirche ist – ich erinnere an das zuvor zum Wissen Ausgeführte –, gemahnt uns dieser Satz, das unaufgebbare Proprium protestantischer Lehre im Blick zu behalten: Kirche zeigt sich weder in Äußerlichkeiten, noch in der Gegenwart eines Amtes, Kirche ist immer da, wo Gottes Wort gepredigt wird! Und da allen Getauften dies Wort anvertraut ist, haben wir auf darauf zu achten, dass das Priestertum aller Gläubigen nicht zu einem hohlen Begriff verkommt.

So wie die seinerzeit in Schmalkalden Versammelten Flagge zeigten und ihre Position deutlich herausstellten, so sollten auch wir heute auf unseren wichtigen und zentralen Identitätsmerkmalen beharren, beispielsweise im Blick auf das Kirchenverständnis. Im Gegensatz freilich zu den in Schmalkalden versammelten Obrigkeiten sollten wir uns heute einem Gespräch nicht entziehen, sondern alles daran setzen, um zu einer Zusammenarbeit und Verständigung mit unseren römisch-katholischen Schwestern und Brüder zu gelangen: auch beim Reformationsjubiläum 2017.

Zum Autor: Prof. Dr. Siegfried Hermle ist seit 2001 Professor für historische Theologie am Institut für Evangelische Theologie an der Universität zu Köln. Er wurde 1955 in Ludwigsburg geboren. Nach seinem Studium in Tübingen und München (1976-1982) war er u.a. Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen, Assistent am Lehrstuhl für Kirchenordnung ebendort sowie als Pfarrer mehrere Jahre tätig.

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2 Kommentare (+deinen hinzufügen?)

  1. Karl
    Nov 02, 2011 @ 18:27:29

    Beim Lesen des Artikels werden Erinnerungen an einen hervorragenden Vortrag am 03.09.2011 in der Todenwarthschen Kemenate in Schmalkalden wach 🙂

    Antworten

  2. Stev Bach
    Nov 03, 2011 @ 22:50:36

    Luthers Schmalkaldische Artikel sind gut und wahr.
    ‚Denn die heilige christliche Kirche kann ohne ein solches Haupt wohl bleiben und wäre es wohl besser geblieben, wenn ein solches Haupt durch den Teufel nicht aufgeworfen wäre, und es ist auch das Papsttum unnütz in der Kirche, denn es übt kein christliches Amt aus, und die Kirche muß also bleiben und bestehen ohne den Papst.‘

    ‚Dies Stück zeigt gewaltig, dass er der rechte Endchrist (Antichrist) oder Widerchrist ist, der sich über und wider Christus gesetzt und erhöht [hat], weil er die Christen nicht selig sein lassen will ohne seine Gewalt, welche doch nichts ist, von Gott nicht angeordnet noch geboten.‘

    ‚Aber der Papst will nicht glauben lassen, sondern spricht, man solle ihm
    gehorsam sein, so werde man selig. Das wollen wir nicht tun, oder darüber
    sterben in Gottes Namen.

    Darum, so wenig wir den Teufel selbst als einen Herrn oder Gott anbeten können, so wenig können wir auch seinen Apostel, den Papst oder Endchrist, in seinem Regiment als Haupt oder Herrn leiden. Denn Lüge und Mord, um Leib und Seele ewig zu verderben, das ist sein päpstliches Regiment eigentlich, wie ich dasselbe in vielen Büchern bewiesen habe.‘

    Aller ökumenischen Träumerei zum Trotz bleiben diese Artikel wahr.
    Jesus Christus lehrte seinen Jüngern die Gleichheit und gebot ihnen sie zu bewahren.
    ‚…ihr aber seid alle Brüder‘ Matthäus 23:8
    ‚Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie 3 und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‘ Mt 18:1-5

    ‚Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.‘ Johannes 13:12-15

    ‚Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemanden unter euch Vater/Papst nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater/Papst, der im Himmel ist. ‚ Matthäus 23:8-9

    Und so stellt sich die Frage: Warum eine Ökumene mit dem Antichrist und seinen Anhängern anstreben?‘
    Eine Ökumene auf Kosten der Wahrheit? ‚Das wollen, sollen und können wir nicht auf unser Gewissen nehmen. Wer es aber tun will, der tue es ohne uns‘

    Umso seltsamer erscheint es, wie sich manche der Verführung hingeben, und sich dem Träumen widmen. Aber Jesus sprach:
    ‚Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?‘ Mattäus 16:26, Markus 8:36, Lukas 9:25

    Ja diesen Weg geht ihr auf eigen Verantwortung, mit Wahrheitsfindung hat die Ökumene wenig zu tun:

    ‚Die gegenwärtige Ökumene hat Verständigung zwischen den größeren christlichen Kirchen erreicht, und von Zuweisungen des Antichrist-Typus an die jeweils andere Seite offiziell Abstand genommen. Die Figur des Antichrist wird überwiegend nicht wörtlich als leiblich existierende Person, sondern als „das Böse“ und eher innere, als falsch bewertete Einstellung, oder eine Manifestation einer äußeren Machtstruktur verstanden.‘

    ‚rkk Ökumenebischof Gerhard Ludwig Müller: Evangelische Seite soll sich ganz offiziell von der Behauptung Luthers distanzieren, dass der Papst der Antichrist sei‘
    ‚Völlig unvermittelt erklärt rkk Ökumene-Bischof Müller der evangelischen Kirche, sie müsse sich von Luther distanzieren.‘

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