Das kulturelle Erbe von Dunkelgraf und Dunkelgräfin
von Thomas Meyhöfer
HILDBURGHAUSEN – Es mag merkwürdig erscheinen, aber ein kulturelles Erbe ist nicht nur denjenigen historischen Persönlichkeiten zu verdanken, die im Rampenlicht standen und die durch ihr Schaffen in Literatur, Wissenschaft oder Kunst hervortraten, sondern auch Personen, die die Öffentlichkeit geradezu mieden und selbst kaum etwas Materielles hinterließen. Für wen könnte dies besser zutreffen als für jenes seltsame Paar, das vor 200 Jahren in Südthüringen zurückgezogen lebte und seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Dunkelgraf und Dunkelgräfin bekannt ist?
Ab Februar 1807 wohnte ein Herr unter dem Namen „Vavel de Versay“ mit einer stets verschleierten Dame und einiger Dienerschaft sehr abgeschieden in Hildburghausen und ab 1810 im wenige Kilometer entfernten Schloss von Eishausen. 30 Jahre lang führten sie ein geheimnisumwittertes Dasein, das zu Gerüchten und Spekulationen Anlass gab. Erst nach ihrem Tod im Jahr 1837 bzw. 1845 öffneten sich die Türen des Schlosses für außenstehende Personen, doch was man fand, trug kaum zu einer Klärung der Motive für das sonderbare Verhalten bei. Zwar erfuhr man, dass der Herr unter falschem Namen lebte und in Wahrheit ein ehemaliger holländischer Diplomat namens Leonardus Cornelius van der Valck war, aber die Identität der Dame blieb bis heute ungeklärt.
Hildburghausen mag mit vielen geschichtlichen Dingen in Verbindung gebracht werden: mit Meyers Konversationslexikon, dem Münchner Oktoberfest, den paläontologischen Saurierfunden oder dem Erstbesteiger des Kilimandscharo. Doch wofür der Ort vor allem im Ausland steht, ist und bleibt das Rätsel um das geheimnisvolle Paar.
Welches Erbe haben Dunkelgraf und Dunkelgräfin hinterlassen? Von den Wohnstätten, in denen sie lebten, haben nur wenige die letzten 200 Jahre überdauert: der „Englische Hof“ in Hildburghausen – das Hotel, in dem sie 1807 abstiegen – existiert als solcher nicht mehr, das Haus Schulersberg – einst Sommerhaus für schöne Tage – stürzte 2002 wegen Baufälligkeit ein, das Schloss Eishausen – über drei Jahrzehnte Domizil des Geheimnisses – riss man 1874 ab. Der schriftliche Nachlass des Herrn van der Valck ging an die Erben nach Holland, das Mobiliar und sonstige Dinge des Schlosses wurden versteigert und so in alle Winde zerstreut. Nur die Gräber der beiden geheimnisumwitterten Personen sind noch erhalten: So ruht die Dunkelgräfin am Schulersberg in Hildburghausen, der Dunkelgraf auf dem Friedhof von Eishausen. Im Stadtmuseum von Hildburghausen finden sich zudem noch einige Gegenstände, die man dem Besitz des Paares zuschreibt.
Das „Erbe“ besteht folglich weniger in einer konkreten Hinterlassenschaft als vielmehr im Schaffen derjenigen, die sich im Nachgang mit dem Paar befassten. Das Geheimnisvolle an dessen Existenz hat Generationen von Forschern und Literaten beschäftigt, hat zu hunderten von Veröffentlichungen geführt und Menschen aller Altersklassen und verschiedener Herkunft zusammengeführt. Es entstand eine eigene Forschungsrichtung, gar eine eigene Forschungskultur. In diesem Zusammenhang sei auf die von Frau Rühle von Lilienstern initiierten Symposien verwiesen, die zwischen 1996 und 2007 stattfanden und bei denen sich zum Teil über 100 Teilnehmer aus dem In- und Ausland über die geschichtlichen Ereignisse austauschten.
So alt die Geschichte auch ist – nach 200 Jahren werden ihr noch immer Kapitel hinzugefügt, werden neue Erkenntnisse über die historischen Begebenheit gewonnen, wird die Frage nach der Identität der Dame gestellt. Denn diese ist bis heute nicht geklärt, zahlreichen Forschungsarbeiten und Theorien zum Trotz.

Von Versailles nach Hildburghausen? Ganz links: "Madame Royale", daneben ihre Mutter, Marie Antoinette. Gemälde von Élisabeth Vigée-Lebrun, um 1787, Versailles.
Die geläufigste Theorie geht davon aus, dass es sich bei der Dunkelgräfin um Marie Thérèse Charlotte von Frankreich, eine Tochter von Ludwig XVI. und Marie Antoinette, gehandelt haben könnte. Die offiziell mit „Madame Royale“ betitelte Prinzessin war während der französischen Revolution zusammen mit ihren Eltern inhaftiert und erst im Jahr 1795 freigelassen worden. Da sie während ihrer Gefangenschaft misshandelt wurde, sei sie für eine tragende politische Rolle nicht mehr geeignet gewesen und man habe sie kurzerhand durch eine andere Person ersetzt. An der Seite des holländischen Diplomaten van der Valck habe sie sich schließlich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen.
Diese „Vertauschungstheorie“, die 1852 erstmals vage angedeutet wurde und sich immer mehr zu verdichten schien, ist jedoch umstritten. Ein Beweis fehlt bislang und Kritiker haben mittlerweile zahlreiche Gegenargumente ins Spiel gebracht. Die MDR-Fernsehreihe „Geschichte Mitteldeutschlands“ kam in der Folge „Die vertauschte Prinzessin. Die Dunkelgräfin von Hildburghausen“ gar zu dem Urteil, die Dunkelgräfin könne unmöglich die französische Prinzessin gewesen sein. Doch ein Beweis in diesem Sinne dürfte einer näheren Betrachtung ebenfalls nicht standhalten.
Die Diskussionen der jüngerer Zeit rankten sich vor allem um eine Grundsatzfrage: Wie soll zukünftig mit dem Erbe umgegangen werden? Kann man es bewahren, indem man das Geheimnis im jetzigen Zustand konserviert oder soll eine weitere historische Aufklärung auch unter Zuhilfenahme moderner Forschungsmethoden angestrebt werden?
Zum Umgang mit der Geschichte gehört neben der Würdigung der bisherigen Anstrengungen um eine Lösung des Rätsels vor allem ein Bekenntnis zur historischen Wahrheit. Nicht die stoische Pflege von Traditionen, nicht die Mystifizierung von Geheimnissen dient dem langfristigen Erhalt des Erbes, sondern die Kenntnis der tatsächlichen Begebenheiten – ein Erbe muss authentisch sein, will es dauerhaft Bestand haben.
Im Jahr 2005 haben sich verschiedene Forscher zu einem Interessenkreis zusammengeschlossen, um eine Aufklärung der historischen Sachverhalte in diesem Sinne zu fördern. Sie wollen auf geschichtswissenschaftlicher Grundlage klären, wer die Dunkelgräfin gewesen ist. Unvoreingenommen und ergebnisoffen soll geprüft werden, ob eine der bisher formulierten Theorien zutrifft und worin der Grund für das Verhalten des Paares lag. Hierzu betreibt der Kreis eigene Forschungen und unterstützt Aktivitäten anderer Akteure. Neben den herkömmlichen Methoden der Geschichtsforschung sollen dabei verstärkt auch moderne Untersuchungsmöglichkeiten wie Handschriftenvergleiche oder DNA-Vergleiche zum Einsatz kommen.
Das Medium Internet ist auch für die Arbeit des Interessenkreises von zentraler Bedeutung. Es ermöglicht die interne Vernetzung der Mitglieder zur Bündelung und Koordinierung der Forschungsarbeit und trägt zu einem umfassenden gegenseitigen Wissensaustausch bei. Mit einer eigenen Internetseite soll die Thematik zudem der breiten Öffentlichkeit nahe gebracht werden. Durch Aufsätze, Textbeiträge, eine umfangreichen Bild- und Literaturdatenbank sowie eine Übersicht über die Theorien zur Identität der Dunkelgräfin wird versucht, den vergangenen und aktuellen Forschungsstand zu dokumentieren. Ein Teil des „Erbes von Dunkelgraf und Dunkelgräfin“ wird damit öffentlich zugänglich.
Zum Weiterlesen:
Thomas Meyhöfer ist Gründungsmitglied des Interessenkreises „Madame Royale“ und beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Dunkelgräfin von Hildburghausen.
Jun 15, 2012 @ 16:10:33
Die Geschichte geht weiter: Wird die Dunkelgräfin nun doch exhumiert, und wird das Fernsehen über ihre Geschichte berichten? Eine Fortsetzung folgt sicher! http://www.insuedthueringen.de/lokal/hildburghausen/hildburghausen/Debatte-um-das-Dunkelgraefin-Geheimnis;art83436,2027719
Jun 27, 2012 @ 17:12:27
Hier die aktuellen News zum Thema, vielleicht fällt heute schon die Entscheidung?
http://www.insuedthueringen.de/lokal/hildburghausen/hildburghausen/Was-wird-aus-dem-Dunkelgraefin-Grab;art83436,2038887
http://www.insuedthueringen.de/regional/feuilleton/th/fwfeuilleton/Raetsel-um-Dunkelgraefin-Der-letzte-Beweis;art83476,2032323
http://www.fr-online.de/panorama/tochter-koenig-ludwig-xvi–die-raetselhafte-dunkelgraefin,1472782,16480772.html
http://www.mdr.de/thueringen/dunkelgraefin100.html