Der Dichter Wilhelm Heinse (1746–1803)
von Stefanie Kießling
Wer kennt es nicht, das Lamento über die Abwanderung aus Thüringen? Junge und hoch qualifizierte Leute finden hier selten den richtigen Wirkkreis, allenfalls die wenigen Wirtschafts- und Bildungszentren wie Jena und Erfurt ziehen Studenten und Arbeitskräfte magnetisch an. Der ländliche Raum vermag junge Menschen hingegen kaum an sich zu binden. Wer kann, zieht in die Ferne – wer eigentlich bleiben will, oft auch, der Arbeit hinterher. Kulturstädte und historische Kleinode werden zu schön anzuschauenden Museumskulissen – und nur allzu selten tobt in ihnen noch das pralle Leben. Wer an Eindrücken und Erfahrung reich aus der Fremde in die Heimat zurückkehrt, entsetzt sich mitunter an der spürbaren Ereignislosigkeit.
Keineswegs ist das alles ein Phänomen unserer modernen Zeiten, die den Menschen mehr denn je Flexibilität abfordern! Schon vor fast 240 Jahren schrieb der Dichter Wilhelm Heinse über seine Landsmänner: „Die geschicktesten unter ihnen werden uns aber nächstens verlaßen, und sich auf den Weg in andere glücklichere Welttheile machen.“ Ihm selbst erging es nicht anders als vielen jungen Thüringern heute. Seine Aufzeichnungen und Briefe charakterisieren eine Gegend, die sogar in den Städten bis heute eher provinziell geprägt ist. Auch wenn mittlerweile niemand mehr Heinse kennt, seinerzeit führten Goethe, Wieland und Co. den Namen dieses Thüringers recht häufig im Munde.
Von einem der auszog …
Wilhelm Heinse kommt 1746 in dem kleinen Städtchen Langewiesen zur Welt. Nicht weit entfernt, in Ilmenau, befindet sich heute eine der renommiertesten technischen Universitäten Deutschlands. Als Sohn des Bürgermeisters, Stadtschreibers und Organisten wird Heinse schon früh mit der Musik vertraut. Den Schulbesuch in Langewiesen, den Privatunterricht bei einem Pastor in Gehren und selbst den Gymnasiumbesuch in Arnstadt muss er als bedrückend empfunden haben. Doch 1762 wechselt Heinse an das Gymnasium in Schleusingen. Wie sehr er dieses Ereignis als den ersten großen Einschnitt seines Lebens bewertet, zeigt sich noch Jahre später. Am 18. November 1770 wirbt er bei dem Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim um Unterstützung und beginnt seine Selbstvorstellung mit dem ‚Bekenntnis‘, dass er erst seit acht Jahren wirklich lebe, also seit seinem Eintritt in das Schleusinger Internat.
Nach der Schule beginnt Heinse in Jena ein Jurastudium, sitzt aber lieber in den Ästhetikvorlesungen Friedrich Justus Riedels. Ihm folgt er 1768 an die Reformuniversität Erfurt. Als Christoph Martin Wieland gut ein Jahr später ebenfalls nach Erfurt kommt, schließt sich Heinse ihm schnell an. Erste Beiträge im Thüringischen Zuschauer, Gedichte und die Musikalischen Dialoge entstehen in dieser Zeit. Doch dem wachsenden Geist Heinses wird nach dem Weggang Riedels und mit den zunehmenden Spannungen an der Universität das „Land der Puffbohnen und Rettiche“ zu eng. Hier endet bis auf kurze Besuche seine Thüringer Zeit.
Eine Reise mit ominösen Auftraggebern verschlägt ihn zunächst nach Süddeutschland. Frucht des einjährigen Vagabundierens ist die Übersetzung von Petrons Satyricon: Begebenheiten des Enkolp – ein kleiner Skandal, der zu einem ausgewachsenen Streit mit seinem ehemaligen Förderer Wieland führt und Heinse dazu zwingt, sich für einige Jahre als „Magister Rost“ auszugeben. Unter diesem Pseudonym tritt er eine Hauslehrerstelle in Quedlinburg an. Bald schon führen ihn seine Wege über Halberstadt nach Düsseldorf, wo er ab 1774 im Hause Friedrich Heinrich Jacobis wohnt. Dort arbeitet er als Redakteur und Beiträger verschiedener Journale und veröffentlicht die Düsseldorfer Gemäldebriefe – mit bis heute unübertroffenen Beschreibungen berühmter Gemälde von Rubens und Tizian.
Sich zu verwirklichen und sein Glück zu machen – das gelingt ihm auch in Düsseldorf nicht. Immer mächtiger wird ab 1774 sein Wunsch, in das Land der Schönheit, nach Italien zu reisen. Dort hoffte er ein freieres, von gesellschaftlichen Zwängen unabhängigeres Leben, ja schließlich sich selbst zu finden. Sechs Jahre des Sehnens, Hoffens und Wartens müssen noch vergehen, bis er im Juni 1780 endlich in das Land seiner Träume aufbricht. Über die gesellschaftlichen Zustände und die widrigen Bedingungen, unter denen er aufgrund seiner finanziell begrenzten Mittel in Italien leben musste, hat er sich nie beschwert. Allem gewinnt er mit einem kaum nachvollziehbaren Optimismus und der enormen Fähigkeit zur Bewunderung auch positive Seiten ab. Eine derart beständige Begeisterung lässt sich außer bei Johann Joachim Winckelmann bei keinem weiteren deutschen Italienreisenden des 18. Jahrhunderts finden.
Drei Jahre bleibt Heinse in Italien. Weitgehend zu Fuß bereist er das Land. Sowohl die Reiseaufzeichnungen als auch die Briefe an seinen Gönner Friedrich Heinrich Jacobi halten eindrucksvoll fest, wie er Kunst und Kultur mit allen Sinnen wahrgenommen hat. Literarisch verarbeitet er seine Erfahrungen in dem Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787). Das Buch wird ein heimlicher Bestseller: Gelesen haben es fast alle, Briefe und Notizen der Zeitgenossen geben Zeugnis davon. Einige Jahre später wandeln sich die Normen und damit die Urteile über den Ardinghello. Schiller und Goethe geben den Ton an und tilgen den Roman aus dem literarischen ‚Kanon‘. Heinse gerät in Vergessenheit. Erst das späte 20. Jahrhundert hat seinen „Feuergeist“ wiederentdeckt.
Das Leben Heinses verläuft ab 1786 in festen Bahnen. Die Jahre bis zu seinem Tod verbringt er zunächst als Vorleser, später als Hofrat und Bibliothekar am Hof des Kurfürsten und Erzbischofs Friedrich Karl Joseph von Erthal in Mainz und Aschaffenburg. Seine Romane Hildegard von Hohenthal (1795/96) und Anastasia und das Schachspiel (1803) sind bis heute fast nur in Musiker- und Schachfachkreisen bekannt. Nach zwei Schlaganfällen stirbt Heinse 1803 in Aschaffenburg und wird dort begraben.
Wiederkehr und Abschied
In seinen Heimatort kehrt Heinse nach seinem Weggang aus Erfurt nur einmal zurück. Im Juli 1772 beendet er seine glücklose Reise durch den Süden Deutschlands und bricht von Erlangen über Coburg nach Hause auf. Gleim gegenüber beschreibt er in einem Brief vom 18. Juli das merkwürdige Gefühl, dass wohl auch heute so manchen ‚Rückkehrer‘ beschleicht:
Sollten Sie mir etwas zu sagen haben, so bitt’ ich Sie nur Ihren Brief bey Herrn Andreä in Erfurt […] abgeben zu laßen; zwar werd’ ich nicht nach Erfurt kommen, aber in meine Heimath von Thüringen kömmt keine Post, da lebt man nach Art und Weise der homerischen Helden Winter und Sommer im Eichen und Birkenhayn. Sonst aß und trank man da nach Art der alten Teutschen, ietzt aber will alles aus dem Lande wandern, wie wird man sich verwundern, wenn hinein wandert Ihr Heinse.
Gerne würde er dort leben, schreibt er am 2. August noch aus Coburg, doch er fürchtet die Vorurteile derjenigen, die nie ihre Heimat verließen. Freundschaften auf Augenhöhe erwartet er dort nicht zu finden. Und trotzdem spricht deutlich der Wunsch aus seinen Briefzeilen, wenigstens auf kurze Zeit zurückzukehren: „Von Erlangen will und muß ich iezt heim gehen, ob ich gleich sehe, daß ich nicht lange in meiner Heimath werde seyn und bleiben können[.]“
Anfang August 1772 kommt Heinse in Langewiesen an. Doch die Wiederkehr bereitet ihm wenig Freude. Erst wenige Tage zuvor hat ein Brand den kleinen Ort fast vollständig zerstört. Aus dem eigenen Elternhaus hatte der Vater nur wenige Kostbarkeiten wie das Klavier und ein paar Bücher retten können. Die Enge der Behelfsunterkünfte und die Not der Leute bedrücken ihn, beistehen kann er kaum. Knapp einen Monat bleibt er in Langewiesen, bevor er Richtung Halberstadt aufbricht. Ob er seinen Heimatort je wieder gesehen hat? Aufzeichnungen und Belege gibt es dafür nicht.
Dass Heinse zumindest noch einmal durch Thüringen reiste, dokumentieren seine Aufzeichnungen. Die 90er Jahre des 18. Jahrhunderts sind hitzige und unsichere Zeiten. Im Juli 1796 erobern französische Truppen Frankfurt am Main. Vor der drohenden Besetzung Aschaffenburgs flieht der kurfürstliche Hof nach Heiligenstadt. Heinse selbst reist über Würzburg nach Thüringen und weiter nach Kassel. Dabei kommt er durch Henneberg, Meiningen, Schmalkalden und Bad Salzungen. Länger aufgehalten hat sich Heinse nicht in den heimatlichen Gefilden. Zumindest in Meiningen scheint er einen ganzen Tag verbracht zu haben. Immerhin genießt er einen Spaziergang durch den Schlosspark und an der Werra entlang. Auch ein kleines Abendkonzert beschreibt er. Weniger Gnade finden das „englische Gärtlein an der Fahrstraße“ und das Meininger Schloss selbst. Das eine ist „fast lauter kleinliches Zeug“ und „Kinderspiel“, das andere erinnert ihn an eine „elende Kaserne“. Schmalkalden und Bad Salzungen erwähnt er in seinen Aufzeichnungen nur knapp wegen ihrer „Häuser von Holz“ und der „Salzquellen“. Und wohl nur aufgrund des schlechten Weges, bleibt Heinse der Ort Vacha in guter Erinnerung. Briefe, die vielleicht mehr über die einzelnen Stationen seiner Reise und über seine Empfindungen verraten könnten, gibt es nicht.
Es lohnt sich mit den Aufzeichnungen und Briefen in der Hand auf den Spuren Heinses zu wandeln und die Welt durch seine Augen zu sehen. Wer ihm nicht gleich nach Italien folgen kann und möchte, der fange doch in Langewiesen oder Meiningen an …
Zum Weiterlesen:
Auf der mit viel Engagement erstellten Homepage www.heinse.de findet der Leser neben Briefauszügen auch eine ausführliche Liste mit Literaturhinweisen. Die Begebenheiten des Enkolp, den Ardinghello und die Gemäldebriefe gibt es in preisgünstigen Leseausgaben zu kaufen. Leider endet die Bibliographie auf der Homepage mit dem Jahr 1998. Darum sei von den zahlreichen jüngeren Erscheinungen unbedingt noch die Edition von Heinses Aufzeichnungen als ganz besonders lesenswert hervorgehoben:
Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass. 5 Bände. Herausgegeben von Markus Bernauer u.a. Erschienen bei Hanser in den Jahren 2003 und 2005.
Zum Entdecken:
Eine kleine Dauerausstellung im Heinse-Haus Langewiesen stellt Werk und Leben des Dichters anschaulich vor.
Zur Autorin: Stefanie Kießling, Germanistin und Lektoratsvolontärin, ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft Kulturerbe Thüringen e.V.
Mai 03, 2011 @ 17:37:33
Eine sehr zu empfehlende Ausgabe des Ardinghello (schön gemacht, handlich und mit einem Nachwort von Rüdiger Görner versehen) ist der 2000 im Manesse-Verlag erschienene Band, 22,90 Euro!