Non dormire – Niemals schlafen

Die Erfurter Familie von Lucius

von Robert von Lucius

ERFURT – Über 320 Jahre währt die Verbindung der bedeutenden Bürgerfamilie (von) Lucius zur Stadt Erfurt. Mit der Benennung einer staatlichen berufsbildenden Schule in „Sebastian-Lucius-Schule“ im März 2008 wurde die Familie, aus der zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten hervorgingen, wieder ins regionale Bewusstsein gerückt. Anlässlich der Namensgebung hielt der Journalist und Autor Robert von Lucius eine Rede, deren historisch interessante Abschnitte wiedergegeben werden und die über besagte Erfurter Familiengeschichte informieren:

Mein Ururgroßvater Sebastian Lucius war ein ungewöhnlicher Mensch. Er arbeitete sich aus schwierigen Umständen zum damals reichsten Bürger Erfurts hoch. Er blieb bescheiden, wie sich aus seiner Selbstbiographie ergibt. Dort schreibt er zu seiner Schulausbildung „Erzogen bei der großen Anzahl von Geschwistern in sehr kleinen Verhältnissen“ und dann den Kernsatz „Was mir an Talent abging, ersetzte ich durch einen rastlosen Eifer“.

Eine Familiengeschichte berichtet, Sebastian sei ein „ungewöhnlich begabter, sehr lebhafter Knabe“ gewesen und ein Liebling seiner Lehrer. Damals, kurz nach der Französischen Revolution 1789, waren in Erfurt viele französische Flüchtlinge. Gegen freien Mittagstisch gaben sie Unterricht in französisch und italienisch, was Sebastian begierig aufnahm. Das half ihm später als Kaufmann: Er reiste viel und oft ins Ausland und baute so den Textilhandel der Stadt Erfurt und seines Unternehmens aus. Zunächst aber ging er bei seinem ältesten Bruder in die Lehre in Frankfurt-Höchst. Den größten Teil des Weges ging er zu Fuß. In diesen eineinhalb Jahren baute er seine Sprachkenntnisse aus und lernte italienische Buchführung. Sein Geschick half ihm, nach seiner Rückkehr die elterliche Handelsfirma vor dem Konkurs zu retten und rasch um eine Fertigung auszubauen. Seine Sprachfertigkeit war auch in den Jahren französischer Besatzung Erfurts gefragt. So konnte er schon 1814, im Alter von nur 32, das Haus Güldene Hecht am Anger kaufen, das er später mit dem Nachbarhaus verband. Bis 1945 war das Doppelhaus im Eigentum der Familie und hieß Lucius-Haus, seitdem ist es als Dacherödensche Haus bekannt. In DDR-Jahren wurde von  hier aus zentral das Gesetzblatt der DDR versandt, jetzt ist es ein Kulturzentrum. Über dem Portal steht weiterhin der Name Lucius eingemeißelt.

1825 reiste er erstmals nach England, wo er sich über den Baumwollmarkt unterrichtete und die erste Eisenbahn mit Lokomotivbetrieb sah. Viele weitere Auslandsreisen folgten, auch nach Rom, wo ihn der Papst empfing. 1841 warb er mit Erfolg im Auftrag der Stadt in Berlin beim preußischen König und bei allen Ministern dafür, dass die geplante Eisenbahn über Erfurt führen werde. 1842 beschäftigte seine Firma Johann Anton Lucius schon 860 Arbeiter. Er führte in Erfurt die erste Dampfmaschine ein und baute Faktoreien im Eichsfeld und im Thüringer Wald. Er war einer der Gründer der Thuringia-Versicherung, der ersten Erfurter Aktiengesellschaft. Als 1847 in Erfurt eine große Teuerung kam, kaufte Sebastian Lucius große Mengen von Roggen und ließ an Bedürftige kostenlos Brot verteilen. Er arbeitete hart – er stand auch in hohem Alter regelmäßig um fünf Uhr früh auf und arbeitete ohne Unterbrechung bis zum Abend. So traf sein Wahlspruch, und jener der Familie Lucius, auf ihn zu: Non dormire, Nicht Schlafen.

Rittergut Klein-Ballhausen

1851, sechs Jahre vor seinem Tod, kaufte Sebastian Lucius das Rittergut Klein-Ballhausen bei Bad Tennstedt, das in seinen letzten Jahren im Sommer sein Lieblingsaufenthalt wurde. Dort starb er auch, und dort sind an der Kirchwand mehrere Familienangehörige begraben, darunter mein Vater. Eine Geschichte Klein-Ballhausens vermerkt, dass mit dem Kauf die „ständigen Streitereien zwischen Gutsherrschaft und Gemeinde“ aufhörten, und er habe, so die Dorfchronik, in den Jahren der Teuerung „mannigfaltige Wohltaten den Armen der Gemeinde erwiesen“. Ähnliches wurde zuvor aus Erfurt berichtet. Er stiftete am Hopfenberg das Grundstück und das Kapital zum Bau eines Altenheimes, das weiterhin Lucius-Hebel-Stift hieß, und das Grundstück und Kapital für das Katholische Krankenhaus Hlg. Nepomuk. Sebastian hatte zudem Anteil an der Gründung der Volkschen Erziehungsanstalt.

Kommerzienrat Lucius stiftete zehnmal so viel wie der preußische König zum Bau des Krankenhauses. Seine sieben überlebenden Kinder – alle wurden in Erfurt im Lucius-Haus am Anger geboren – stifteten ebenso namhafte Summen zum Pflegeheim und zum Krankenhaus. Die Stiftung steht weiterhin unter der Obhut der katholischen Kirche und des Bischofs von Erfurt. Sebastian Lucius war einer der wenigen wirtschaftlich erfolgreichen katholischen Bürger Erfurts. Mindestens zweimal konnten die Schwestern und die Oberin Versuche des Staates wie auch der Kirche, den Zweck des Gebäudes zu entfremden, abwehren. In den Aufenthaltsräumen des Altersheimes hingen Porträts von Sebastian Lucius und seinem Sohn August.

Sein Testament schloss Sebastian Lucius mit den Sätzen „dass unter meiner ganzen Hinterlassenschaft nach meinem besten Wissen nicht ein Pfennig ungerechtes zum Schaden eines zweiten erworbenes Gut ist“. Er verdanke alles nächst Gottes Segen „der glücklichen Wahl einer durch und durch braven Hausfrau“ und dem „Besitz einer unverwüstlichen Gesundheit, der Sparsamkeit an mir selbst und der Liberalität gegen Andere“. Als er starb, war Sebastian Lucius der wohlhabendste Bürger Erfurts und der höchste Steuerzahler. Hans-Werner Hahn beschreibt in einer im Jahr 2001 erschienenen Studie über das Bürgertum in Thüringen die Familie Lucius als „eine der erfolgreichsten und prägendsten thüringischen Bürgerfamilien des 19. Jahrhunderts“ und darüber hinaus eine der „bedeutendsten Familien des deutschen Bürgertums“. In seiner Arbeit habe, schreibt Hahn, Sebastian Lucius ein Gespür dafür gehabt, dass man als Unternehmer nicht mehr auf staatliche Subventionen und Privilegien setzen dürfe, sondern dass es vor allem auf die eigene Kraft und das eigene Geschick ankomme.

Das Grabdenkmal von Sebastian und Marianne Lucius wurde, nachdem das Erbbegräbnis auf dem Krämpferfriedhof und später dem Südfriedhof aufgehoben wurde, an der Außenwand der Lucius-Hebel-Stiftung wieder errichtet an der Karthäuserstraße 57.

Sebastian Lucius trug den Titel Kommerzienrat und war, wie später sein Sohn Ferdinand, zwölf Jahre lang Präsident der Erfurter Handelskammer, deren Gründung 1845 er betrieben hatte. Man bot ihm 1848 einen Sitz in der Preußischen Nationalversammlung an oder im Frankfurter Paulskirchenparlament. Das lehnte er ab. Seine vier überlebenden Söhne aber wurden alle Abgeordnete des Reichstages, und das noch in drei verschiedenen Parteien. Vier Brüder im Parlament in Berlin – das hat es in der gesamten deutschen Parlamentsgeschichte sonst nicht gegeben.

Etwas Weiteres hatten seine Kinder, nicht nur die Söhne, mit dem Vater gemeinsam, sie waren reisefreudig. Sein ältester Sohn August durchstreifte fünf Jahre lang von 1837 an die Vereinigten Staaten, Kuba und Mexiko. Der jüngste Sohn Robert reiste als junger Mann kurz nach seinem Medizinstudium nach Marokko und schloss sich auf Ceylon/Sri Lanka der ersten preußischen Ostasienexpedition an. Mit ihr war er vor gut 150 Jahren zwei Jahre lang in Japan, China an der Großen Mauer, Korea und Südostasien, unmittelbar nach der Öffnung Japans zum Westen. Die Reiselust erstreckt sich auf die Frauen. Sebastians Enkelin Anna Voigt, in Erfurt geboren, bestieg 1877 als eine der ersten deutschen Frauen den Matterhorn. Eine Urenkelin bereiste um die Jahrhundertwende, also um 1900, den Orient, das Nordkap, Algerien; sie studierte in Rom und in Heidelberg arabisch, syrisch, äthiopisch, persisch.

Sebastians erfolgreiche und engagierte Kinder

Die Verbundenheit zu Erfurt setzte sich bei seinen Kindern fort, auch wenn drei Söhne fortzogen. Der Garn- und Wollgroßhändler Ferdinand Lucius baute das Geschäft und die Rolle der Familie in Erfurt aus. Vor genau hundert Jahren verfügte er über ein Vermögen von acht bis neun Millionen Mark und ein Jahreseinkommen von 500 000 Mark. Er war wie der Vater viele Jahre Präsident der Handelskammer und engagierte sich in der Stadtverwaltung und der Kultur. 1910 wurde er Ehrenbürger von Erfurt. Als Abgeordneter des Reichstages und des preußischen Landtags war er Freikonservativer.

Sein älterer Bruder August hatte anfangs die Firma übernehmen sollen, fühlte sich aber stärker zur Kunst hingezogen. Er war zwar auch Kaufmann und Landwirt, und setzte sich für das katholische Vereinswesen in Erfurt ein, wurde dann aber Kunstmaler in Düsseldorf und Reichstagsabgeordneter für das katholische Zentrum.

Der Bruder Eugen studierte Chemie in Hannover, Berlin und Heidelberg sowie in Manchester. Er gründete zusammen mit seinem Schwager nahe Frankfurt die chemische Fabrik Meister Lucius & Co., aus der die Farbwerke Hoechst hervorgingen, vor zwei, drei Jahrzehnten der größte Chemiekonzern der Welt. Auch er galt nicht nur als wirtschaftlich erfolgreich, sondern auch in Frankfurt und Hoechst als Sozialreformer – er stiftete vielfach für soziale und künstlerische Zwecke. Im Reichstag saß er für die Nationalliberale Partei.

Der jüngste Bruder Robert, unser Urgroßvater, wurde nach seinem Medizinstudium und seinen Auslandsreisen vor gut eineinhalb Jahrhunderten durch drei Kontinente Landwirt und Politiker. Er war Vizepräsident des Reichstages, elf Jahre lang preußischer Landwirtschaftsminister, und Lebenszeitmitglied des Herrenhauses. 1888 wurde er vom Kaiser geadelt und in den erblichen Freiherrnstand erhoben. Robert Freiherr Lucius von Ballhausen war ein enger Vertrauter Bismarcks und als Freikonservativer dessen Bindeglied zum Parlament. Da er an Mittagessen des Reichskanzlers fast stets teilnahm, gelten seine nüchtern aufgezeichneten Bismarck-Erinnerungen als eine der wichtigsten Geschichtsquellen jener Zeit. Auch er wurde 1889 Ehrenbürger Erfurts.

So eindrucksvoll die Lebensgeschichten der Kinder und teils auch der Enkel Sebastian Lucius klingen mögen – der eindrucksvollste jener Familie war, darüber sind sich Historiker einig, Sebastian Lucius, nach dem Sie heute Ihre Schule benannt haben.

Zum Autor: Robert von Lucius ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Hannover, Autor mehrerer Bücher und Mitglied der Gesellschaft Kulturerbe Thüringen e.V.

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6 Kommentare (+deinen hinzufügen?)

  1. Andrea Stangl
    Mär 15, 2013 @ 13:39:48

    sebastian Lucius ist mein urururgroßvater und ich wäre interessiert an Kontaktaufnahme mit Nachkommen. Im Nachlass meiner 2012 verstorbenen Mutter (Linie Ferdinand) befinden sich ausser dem Familienbuch Bilder, Fotos ,Briefe und Dokumente der Familie Lucius .

    Antworten

  2. Trackback: “Wer hat, sollte geben” | KulThür
  3. NdM
    Aug 06, 2014 @ 12:48:26

    Frau Stangel,
    sie könne mir gerne eine E-mail senden.
    tkmani@hotmail.de

    Antworten

  4. shadowedhands
    Okt 21, 2018 @ 18:26:30

    I am related to the Lucius family.
    Is it possible to send me images of portraits or existing family?

    Best Regards

    Genevieve

    Antworten

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